Ein Bilderbuch in der Bücherschau: Kurt Tucholskys ›Deutschland, Deutschland über alles‹ (1929)

Von Dr. Anna Seidel

Das gelbleuchtende und irgendwie krawallig-montierte Cover ist nicht mal ansatzweise zu erahnen, als der Neue Deutsche Verlag im August 1929 in der Zeitschrift ›Die neue Bücherschau‹ Werbung für ›Deutschland, Deutschland über alles‹ schaltet. Es ist das neuste Buchprojekt vom linken Schriftsteller Kurt Tucholsky. Die Anzeige, die neben Tucholsky auch noch den Fotomonteur John Heartfield als Mitwirkenden auszeichnet, ist – gemessen am beworbenen Produkt – in ihrer Schlichtheit kaum zu übertreffen. Großzügig gesetzt zeichnet sich die Seite höchstens durch viel weiße Fläche aus. Da bleibt das Auge durchaus hängen, denn das ist ansonsten ein unüblicher Anblick in der ›neuen Bücherschau‹. Beim Durchblättern der Publikation wird das schnell deutlich: Eine reguläre Seite präsentiert sich dicht gesetzt, hier und dort von einer singulären Illustration unterbrochen. Bücher-›schau‹, das heißt in diesem Zusammenhang nicht zwingend, dass man auch etwas besonders Reizvolles zu sehen, um nicht zu sagen: zu schauen bekommt.

Wir befinden uns hier schon fast am Ende der Ausgabe und damit ohnehin im Werbeblock, der nicht mal mehr paginiert wird. Die letzten Seiten, die neben dem Tucholsky/Heartfield-Buch auch noch eines vom Theatermacheer Erwin Piscator und Tucholskys Wochenzeitschrift ›Die Weltbühne‹ bewerben, können von der Druckerei ganz unkompliziert an die redaktionellen Inhalte angedockt werden. Es ist denkbar, dass die Druckvorlagen der Reklameanzeigen so, also ohne Paginierung, ganz praktisch gleich für mehrere Ausgaben derselben Zeitschrift oder gar verschiedener Publikationen verwendet werden konnten.

Eingerahmt von einem schwarzen Balken kann die Werbung für das Buch einfach wirken. Der Titel sticht am größten gesetzt heraus, auch der Autorenname ist dank der Kapitälchen unmittelbar zu erfassen. Versprochen wird den Lesenden: »Eine Reise durch ganz Deutschland für M 3.20«, jedenfalls wenn man sich für die kartonierte Variante entscheidet, für fünf Mark gibt es sogar eine gebundene. Es wird außerdem superlativiert angepriesen: »Die besten Fotografen lieferten über 200 Fotos.« (Die neue Bücherschau, H. 8, Jg. 7, August 1929, o.P., [S. 463]). Die schiere Menge der angekündigten Illustrationen im Buch wirkt fast schon ungeheuerlich. Mehr ist in diesem Fall dann wirklich mehr und dieses Mehr will beworben werden. Im Verbund mit der schlichten Reklameanzeige, die ganz ohne irgendeine Illustration auskommt, ergibt sich ein spannungsvoller Gegensatz.

Wofür wird hier in ›Die neue Bücherschau‹ also geworben? Es ist ein Buch, das eine Deutschlandreise der etwas anderen Art präsentiert: kein Reiseführer, vielmehr satirische Gesellschaftskritik. Und ›Deutschland, Deutschland über alles‹ ist ein Fotobuch. Fotobücher haben durchaus Konjunktur im Druckwesen der Weimarer Republik (vgl. Heiting und Jaeger 2012), genau wie die illustrierte Presse – davon erzählt nicht zuletzt die digitalisierte Sammlung der SLUB Dresden, die zur Materialbasis dieses Blogs geworden ist. Technische Neuerungen in Fotografie und Drucktechnik ermöglichen die vergleichsweise unkomplizierte Kombination von Text und Bild auf einer Druckseite. Kurt Tucholskys Fotobuch ist also gewissermaßen eines von vielen – und doch etwas Besonderes. Seine ausformulierte Kritik geht in Form von »Kurzgeschichten, Gedichte[n] und Aufsätze[n]« (Die neue Bücherschau, H. 8, Jg. 7, August 1929, o.P., [S. 463]). in den Dialog mit den von John Heartfield angeordneten Fotos und Fotomontagen (vgl. Zervignón 2020, S. 44). »[I]nsbesondere die Umschlagseite, auf [der] ein preußischer General mit einem Zylinder tragenden Bürger zu einem Automaten verschmolz, der die Nationalhymne trällerte« (ebd.), hat inzwischen längst ikonischen Status. Wie dem auch sei: Nichts davon ist zu sehen in der nüchternen Anzeige, die doch Zeitgenoss_innen neugierig machen soll.
 

Möglicherweise ruft die Anzeige der Leseschaft ohnehin bloß wieder ins Gedächtnis, was sie längst schon mal gesehen hat. Jedenfalls dann, wenn sie neben ›Die neue Bücherschau‹ auch die ›Arbeiter-Illustrierte-Zeitung‹ kennt. In der kommunistischen Wochenzeitung werden über die zweite Jahreshälfte von 1929 immer wieder die Fotomontagen von Heartfield mit den Texten von Tucholsky abgedruckt, wie sie dann im Herbst in ›Deutschland, Deutschland über alles‹ gebündelt erscheinen. Nicht immer sind hierbei redaktionelle von für die Publikation werbenden Inhalten zu unterscheiden. Das stört allerdings vermutlich weder die Macher_innen der Zeitung noch die des Buches – beide Publikationen erscheinen im Neuen Deutschen Verlag, sind also gewissermaßen Geschwister im Geiste.

Und wenn die Leseschaft von ›Die neue Bücherschau‹ das Buch ›Deutschland, Deutschland über alles‹ noch nicht vor Augen hat, so hat sie potentiell zumindest schon mal davon gelesen. In der Juni-Ausgabe des Jahres 1929 wird Tucholskys Deutschland-Buch bereits in der Werkstatt-Rubrik »Woran die Autoren arbeiten« angekündigt. Als eines von vielen Projekten steht es in alphabetischer Autorennamenordnung unter anderem neben Büchern von Lion Feuchtwanger und Erwin Piscator.
 

In der gleichen Ausgabe, in der die Werbeanzeige veröffentlicht wird, erscheint außerdem auch schon eine kurze Besprechung zu ›Deutschland, Deutschland über alles‹. Die Redaktion verweist darauf, dass einige der im Buch veröffentlichten Texte schon aus ›Weltbühne‹ und ›Vossischer Zeitung‹ bekannt seien. Dennoch: »Jedes Wort sitzt, trifft den Kern der Sache. Und die Fotos – aber die muß man gesehen haben!« (o.A. 1929, S. 459) Der kurze Jubelsturm soll nicht in einer Mini-Rezension verhallen, angekündigt wird also eine baldige Würdigung in Langform: »Wir werden auf diese Wichtige [sic!] Publikation noch ausführlich zurückkommen.« (ebd.)
 


Gesagt, getan: In der darauffolgenden Ausgabe erscheint in der Rubrik »Marginalien« eine einseitige Besprechung. Gerhard Gleißberg schwärmt in den allerhöchsten Tönen von Tucholsky und seinem »Buch der Bilder« (Gleißberg 1929, S. 512). Der »vielseitigste, stilvollste und witzigste Publizist unserer Tage« schreibt hier nach Gleißberg eine »soziale Satire großen Stils« (ebd.). Die Überschrift der Besprechung verweist auf »Tucholskys Bilderbuch«. Hier ist ein Tucholsky-Fan am Werk, der versucht, sich mit den eigenen Worten auf die Ebene des von ihm so Bewunderten zu schreiben: »Weil es den Deutschen lehrt, wie er schreiben, lesen, leben und sein könnte, wenn er … nicht: wenn er wollte. So ein Buch ist Das [sic!] (würde Tucholsky hinzufügen).« (ebd.) Es darf davon ausgegangen werden, dass sich die Redaktion mit Kurt Tucholsky auskennt, schließlich wurde dem Literaten 1928 bereits eine ganze Ausgabe der ›neuen Bücherschau‹ gewidmet. Auch John Heartfield findet immer mal wieder Erwähnung in der ›neuen Bücherschau‹, dann allerdings vor allem wegen der Buchumschläge, die er erfolgreich für den Malik Verlag seines Bruders Wieland Herzfelde sowie den Verlag für Literatur und Politik und einige weitere designt. Heartfield wird allerorten gefeiert (vgl. Zervignón 2020, S. 41; Pachnicke und Honnef 1991, S. 13). Für seine montierten Buch-Illustrationen ist hier allerdings auf den ersten Blick, in der langen Besprechung zu ›Deutschland, Deutschland über alles‹ von Gleißberg, kein Raum; rhetorisch nicht und visuell sowieso nicht.
 

Auf den zweiten Blick kann die geneigte Leseschaft beim Durchblättern der ›neuen Bücherschau‹ dann aber doch noch gewichtige visuelle Spuren von ›Deutschland, Deutschland über alles‹ finden. Nach all den wortreichen Verhandlungen des Buches ist sein Cover auf der letzten Seite des allheftlichen Werbeblocks nämlich endlich in seiner vollen Pracht abgebildet. Jedenfalls fast, denn die knalligen schwarz-rot-goldenen, schwarz-weiß-roten Farben, in denen das Krawall-Cover gedruckt worden ist, muss sich die Betrachterin denken – die Anzeige ist schließlich, wie abgesehen vom Cover sonst auch alles im Heft, in Graustufen gedruckt. Es offenbart sich hier dann bei genauer Betrachtung die Erfolgsgeschichte von ›Deutschland, Deutschland über alles‹. In der einseitigen Anzeige kann der Neue Deutsche Verlag eine Erfolgsmeldung verkünden: »12000 Exemplare in 10 Tagen verkauft« (Die neue Bücherschau, H. 9, Jg. 7, September 1929, o.P., [S. 526]). Das Buch wird in kürzester Zeit zum Bestseller. Grund hierfür ist längst nicht bloß sein Cover. Es ist eine ausgefuchste Marketing-Kampagne, die verschiedene Medien mit verschiedenen Werbeanzeigen zu bespielen weiß und offenbar zu redaktioneller Auseinandersetzung motiviert. Die jovialen Ankündigungen, Besprechungen und Reklameanzeigen in der ›neuen Bücherschau‹ leisten zu dem hier zu guter Letzt ausgestellten Erfolg trotz ihrer weitestgehenden Illustrationslosigkeit einen Beitrag.

 

Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1472 Transformationen des Populären forscht Dr. Anna Seidel zu den illustrierten Magazinen der Weimarer Republika. Dies ist ein Einblick in ihr aktuelles Buchprojekt, das den Arbeitstitel »Illustrierte Stilbildung in den Zeitschriften der Weimarer Republik. Feuilletons – Ratgeber – Reklame« trägt.

Text: Dr. Anna Seidel 2024. Universität Innsbruck / SFB 1472 Transformationen des Populären, Kontakt: Anna.Seidel@uibk.ac.at

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Literatur

O.A.: [Kurzbesprechung zu] Kurt Tucholsky, Deutschland, Deutschland über alles, in: Die neue Bücherschau. Bd. 7, H. 8 (August 1929), S. 459.

Gerhard Gleißberg: Tucholskys Bilderbuch, in: Die neue Bücherschau, H. 9, Jg. 7 (September 1929), S. 512-513.

Manfred Heiting und Roland Jaeger (Hg.): Autopsie, Bd.1: Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945. Göttingen 2012.

Peter Pachnicke und Klaus Honnef: Zum Thema, in: [Ausstellungskatalog] John Heartfield. Köln 1991, S. 11-13.

Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles. Ein Bilderbuch von Kurt Tucholsky und vielen Fotografen. Montiert von John Heartfield [1929]. Reinbek bei Hamburg 1980.

Andrés Mario Zervignón: Produktive Beziehungen: John Heartfield und Willi Münzenberg (aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider), in: [Ausstellungskatalog] John Heartfield. Fotografie plus Dynamit hg. von Angela Lammert, Rosa von der Schulenberg und Anna Schultz im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin. Berlin und München 2020, S. 39-45.