Die amerikanische Jugend im Uhu - eine Stichprobe
Von Dr. Anna Seidel
Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1472 - Transformationen des Populären forscht Anna Seidel zu den illustrierten Magazinen der Weimarer Republik. Dies ist ein Einblick in ihr Projekt, das den Arbeitstitel „Illustrierte Stilbildung in den Zeitschriften der Weimarer Republik. Feuilletons – Ratgeber – Reklame“ trägt.
„Nach Amerika?“, fragt 1924 in geschwungener Schrift großflächig eine Werbeanzeige die Leser:innen der kompakten Monatszeitschrift Uhu (Abb. 1). Amerika – das klingt seit eh und je nach Abenteuer. Round Trip oder gleich auswandern – die schlichte Anzeige in schwarz/weiß lässt das reizvoll offen. Obwohl eine Reise von Europa in die Vereinigten Staaten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Dampfschiff durchaus möglich ist – etwa mit den hier beworbenen Reedereien „American Line[,] Red Star Line[,] White Star Line“, auch die 1912 gesunkene Titanic kommt in den Sinn – für die allermeisten bleibt Amerika wohl irgendwie exotischer Sehnsuchtsort. Die Konjunktur illustrierter Magazine in der Weimarer Republik befeuert diese Sehnsucht durchaus: Fotografische Homestories der Stars in Hollywood, illustrierte Feuilletons zu aufregenden New Yorker Kaufhäusern und bebilderte Reiseberichte ‚unmittelbar‘ vom freiheitversprechenden Highway unterhalten das Schau- und Schmökerpublikum – nicht nur des Uhu, dem von 1924 bis 1934 monatlich im Berliner Ullstein-Verlag für den Preis von einer Mark angebotenen, in der Regel weit mehr als 100 Seiten umfassenden, von Beginn an reich illustrierten Magazin mit schwankender, aber stets sechsstelliger Auflage (Ferber 1979, S. 353).
Die Korrespondent*innen und Redakteur*innen des Uhu und von anderen Magazinen mit Titeln wie Die Dame, Koralle oder Querschnitt dürfen bisweilen den Atlantik überqueren, um genau diese Stories für die heimischen Leser:innen ausfindig zu machen. Sie spitzen erst die Ohren und dann die Bleistifte, sammeln kuriose Geschichten, bilden steile Thesen und schreiben sie schließlich eindrucksvoll bebildert auf. Wenn die Reisen auch nur für wenige der Leser:innen erschwinglich sein dürften: Eingangs erwähnte Werbeanzeigen für „regelmässige Abfahrten der erstklassigen Passagierdampfer“ (Uhu, Heft 1, Oktober 1924, S. 108) tun natürlich ihr Übriges (Abb. 2).
Der Autor Fritz Zielesch kleckert also nicht, als er 1924 in einer kurzen Reisereportage in besagtem Uhu die „Jugend in Amerika“ beschreibt (Zielesch 1924). Diese Jugend ist nicht mehr Kind, noch nicht erwachsen, nicht recht Mann oder Frau, und vor allem: Die „Jugend in Amerika“ ist ganz anders als die Jugendlichen in Deutschland. Ihre Beschreibung durch Fritz Zielesch, der als Journalist sowie als Buchautor tätig ist und in den 1950er-Jahren unter anderem mit seiner Frau Li Zielesch Übersetzungen einiger Exilromane Vicki Baums aus dem Englischen besorgt (vgl. Malm 2018, Sp. 629-630), kann durchaus als transatlantischer Übersetzungsversuch gelesen werden. Für Zielesch sind die von ihm beobachteten jungen Amerikaner:innen mit ihren Lollipops, ihrem Jazz und ihrem Baseball nicht weniger als „Das neue Geschlecht“. So lautet der klotzende Titel seines großzügig mit Fotos illustrierten Textes, der auch als inoffizieller Vorläufer seines dann 1925 erscheinenden Buchs zur „Jugend im Land der Jugend“ dienen könnte (Zielesch 1925). Was ist das „Land der Jugend“? Natürlich: Amerika.
Aber zurück zum Uhu: In der zweiten Ausgabe der Zeitschrift geht es also um das ohnehin sehr kurze „week-end“ (der Begriff wird 1924 selbstverständlich in Anführungszeichen gesetzt) und darum, wie die Jugend in der Peripherie von New York City dieses „week-end“ verbringt. Es klingt traumhaft: „Die Jugend am Hudson – was tut sie? Sie spielt Baseball, sie sitzt oder liegt im Sand neben den Grasflächen oder an der Uferböschung, sie liest, sie schwatzt, sie hört dem Potpourri der benachbarten Grammophone zu“ (Zielesch 1924, S. 6).
Für die von Zielesch beobachteten Jugendlichen stehen also in der kurzen Erholungsphase zwischen Arbeitsverpflichtung und erneuter Arbeitsverpflichtung nicht etwa, wie zeitgleich oft bei ihren deutschen Peers, wandervogelige Leibesertüchtigungen im Mittelpunkt, höchstens die „Ausflugskleidung[,] eine merkwürdige Mischung von Broadway-Eleganz und Wandervogelstil.“ (ebd., S. 4) Überhaupt: Stilsicher
„treibt der Flapper am Hudson gar keinen Sport, er wandert nicht, er klettert nicht, er strengt sich nicht an. Und so stecken denn auch die Beine in zarten Seidenstrümpfen, und die Füße tragen den fashionablen Stöckelschuh.“ (ebd.)
Es wird gestanden, nicht gewandert, gebadet, nicht geschwommen (Abb. 3). Lässiger Look bei cooler Haltung ist die Devise (Abb. 4). Curiouser and curiouser… es sind alle eitel, wenn es „nach sechs Arbeitstagen“ rausgeht aus dem „steinerne[n] Dampfkessel New York“ (ebd., S. 2) – der übrigens nur entsprechend beschrieben, nicht mit Bildern illustriert wird. Möglicherweise hatte das Lesepublikum schon 1924 eine gute Vorstellung von alledem.
Gewandert wird also nicht am Hudson. Das liegt allerdings nicht nur am unpraktischen Outfit. Das Wandern am Hudson ist schlicht unmöglich, wie der Autor selbst festzustellen vorgibt:
„Alle Wege sind Sackgassen, plötzlich endet der Pfad […] oder er stößt auf ein verschlossenes Privatgrundstück, oder er verliert sich in undurchdringlichem Dickicht.“ (ebd., S. 6)
Manch einer zweifelt, dass Zielesch selbst vor Ort gewesen ist (vgl. Eiselmeier 1925, S. 151), aber wer will ihm das Gegenteil beweisen? Gut, zu Wort kommen die Jugendlichen in seiner Reisereportage nicht. Dafür bauen sie sich, so berichtet es Zielesch, an günstigen Uferstellen ganze „Sonntagssiedlungen“ (Zielesch 1924, S. 4) aus Zelten, Matratzen und allen Annehmlichkeiten, die sie eben in ihren Kanus heranschaffen können.
Dass die „Jugend in Amerika“ eine stolze Menge solcher Kanus zur Verfügung hat, erahnen die Leser:innen des Uhu bei der Betrachtung eines der ganzseitigen Fotos, die den Beitrag begleiten (Abb. 5). Zu sehen ist eine kaum zählbare Menge an Kanus in Formation, besetzt mit vielen Flappern und nur wenigen Jungs. Die widmen sich vielleicht lieber an Land „ihr[em] traditionelle[n] Sonntagsvergnügen, das auch ihr ständiges Alltagsvergnügen ist“ (ebd., S. 4): Baseball. Zielesch warnt die imaginierten Reisenden:
„Immer sind auf einer solchen Hudsonwiese ein paar Dutzend dieser sehr scharf geschleuderten Bälle in der Luft, und der Passant tut gut daran, seine edleren Teile vor den harten Geschossen in Acht zu nehmen.“ (ebd.)
Den Versuch, die Regeln des Spiels zu erklären, unternimmt er an dieser Stelle nicht – stattdessen: wirklich praktische Warnhinweise.
Der Soundtrack zum jugendlichen Treiben am Hudson ist „der neuste Jazzschlager mit […] amerikanische[m] Text“ (ebd., S. 2) – und zwar schon auf der Fähre zum Wochenendzielort. Zielesch versucht sich an Übersetzungen, die er direkt mit Aussprachehilfen für seine Leser*innen koppelt, wenn er „O why“ zwar als „O warum“, aber eben auch als „auwei“ übersetzt. „Jazzklang und Jazzschritt“ (ebd., S. 3), der Jazz klingt aus den mitgebrachten Grammophonen, zum Jazz wird getanzt.
Zielesch macht Trends aus, die ihn durchaus faszinieren. Man kann ihm quasi dabei zusehen, wie er das adäquate Vokabular zur Beschreibung der jungen Menschen und ihrer auf ihn fremd wirkenden Freizeitbeschäftigungen überhaupt erst entwickeln und dann eben dem deutschen Publikum vermitteln muss. Das ist nämlich gar nicht so leicht, wenn man seine Studienobjekte ernst nimmt und ihnen weder zu paternalistisch Kindlichkeit unterstellen will, noch erwachsene Peers beschreibt:
„Der Lollipop ist dem ‚Flapper‘ am Hudson unentbehrlich, dem Flapper, jenem etwas exzentrischen und eigenwilligen Mädeltyp […]. Am Lollipop enthüllt sich das kindliche Gemüt des Flappers.“ (ebd., S. 2)
Flapper, Lollipop – das sind Fremdwörter für das Uhu-Publikum 1924, das sich derlei Herausforderungen Monat für Monat gerne aussetzt. Alles muss erklärt werden: „Der Lollipop ist ein großer flacher Bonbon, den es in allen Farben gibt. Er steckt an einem dünnen Holzstäbchen. Und das ist der Trick, der ihn populär machte.“ (ebd.) Wenn es auch noch drei Jahrzehnte dauern wird, bis der Lollipop bei Richard Hamilton zu seinem populären Höhepunkt kommt, ein schnöder Bonbon war schon im Jahr 1924 von gestern.
Als bekannte Referenz für den Flapper setzt Zielesch den „einige Jahre jüngeren Backfisch Europas“, der aber (nicht nur altersbedingt) doch ein gutes Stück braver ist als seine amerikanische Cousine, die als Typus in den 1920ern auch in der Weimarer Republik durchaus noch Konjunktur haben wird. Not a girl, not yet a woman – Zielesch beschreibt die Kindfrau als Zwischenwesen. Sie ist Teil der amerikanischen Jugend als dem ‚neuen‘ Geschlecht:
„Und schau, während des Tanzes kann man den bunten Bonbon am Stäbchen am Munde herumführen, kann ihn über die Lippen ziehen und die schmelzende Süßigkeit mit dem ganzen schmatzenden Geschmacksapparat ausgiebigst genießen. Man kann ihn auch gaumenselig versinken und dabei das Stäbchen aus dem Munde ragen lassen. Man kann ihn […] wieder ans Tageslicht heben und die Landschaft durch die farbige Masse betrachten. Das ist der Lollipop.“ (ebd., S. 2-3)
Das ist er also, der Lollipop. Obwohl Zielesch behauptet die „Stimmung ist harmlose Vergnügtheit. Flirt? Das Wort ist nicht amerikanisch, der Begriff auch nicht. Erotik? Keine Spur!“ – der hier ausführlich beschriebene amerikanische Dauerlutscher ist natürlich längst nicht nur unschuldig-verspieltes Prisma für irgendwelche selbstvergessenen Lichtspiele.
Das zugehörige halbseitige Foto zu Zieleschs Ausführungen ist derweil denkbar harmlos (Abb. 6). Es wird untertitelt mit möglichst starken Stadt-Land-Kontrasten: „Aus dem Wolkenkratzermeer ins Freie: ‚Camping‘, das Zeltleben der amerikanischen Jugend“ (ebd., S. 3). Im oberen Drittel des Bildes ist ein tipiartiges Zelt zu sehen, das zwar nicht an irgendwelchen Wolken kratzt, dafür aber frech aus dem Bilderrahmen heraus in die Überschrift ragt. Unten sitzt zur Seite gelehnt eine der von Zielesch beschriebenen jungen Frauen im „Wollsweater“ mit einer dieser für ihn „sonderbaren Haarfrisur[en]“ (ebd., S. 4) – die Haare sind der Mode entsprechend kurz, die entspannte Camping-Version eines Bubikopfs. Der ist dem Kulturübersetzer Zielesch allerdings noch nicht so geläufig und wird von ihm als „Bubenkopf“ markiert (ebd.). Vielleicht verbirgt sich hier auch nur ein weiterer Versuch, der Jugend von Amerika das Begehren und das Begehrtwerden abzusprechen.