Parmigianino und der Manierismus

In der direkten Nachfolge der Camera di San Paolo steht die Ausmalung eines Zimmers im Kastell von Fontanellato von Francesco Mazzola, genannt Il Parmigianino, die zwischen 1523 und 1524 entstanden ist. Form und Struktur dieser gemalten Laube sind deutlich von Correggio angeregt, die formalen Mittel sind jedoch direkter und werden dem erzählerischen Anliegen gerecht. Das Thema ist die Geschichte von Diana und Aktäon, die Ovid in den „Metamorphosen“ erzählt. Wie Parmigianinos Zeichnungen belegen, sollte die Ausmalung zunächst auch einen Raub der Europa enthalten. Wahrscheinlich stammte die Idee (concetto) der Ausmalung vom Auftraggeber dieser Dekoration, Galeazzo Sanvitale, Graf von Fontanellato (1496–1550). Die sinnliche Komponente der Dekoration, die reich an üppigen Nuditäten ist, nimmt die an ähnlichen Effekten reiche Dekoration des Palazzo del Te in Mantua vorweg. Ihr poetischer Gehalt steht jedoch in einem gewissen Widerspruch zu dieser vordergründigen Aussage. Dies verdeutlichen die beiden Inschriften, die den Betrachter zur Nachdenklichkeit auffordern. Die erste befindet sich auf dem Rahmen des im Zentrum der Decke angebrachten Spiegels, der vermutlich ursprünglich ein Konvexspiegel sein sollte, in dem sich der Betrachter, umgeben von der gesamten Dekoration, selbst gesehen hätte. Er wird hier explizit aufgefordert, das Ende zu bedenken: Respice finem. Das bezieht sich nicht nur auf das schreckliche Ende des Aktäon, der nach seiner Verwandlung in einen Hirsch von seinen eigenen Hunden zerfleischt wird, sondern beinhaltet auch einen generellen moralischen Appell. Die zweite Inschrift im Wandfries erhebt dagegen in Form einer Frage den Vorwurf gegenüber Diana, dass ihre Strafe zu grausam sei, da Aktäon kein vorsätzliches Verbrechen begangen habe.

Das Oszillieren der Malerei zwischen dem äußeren Reiz, dem Einbeziehen des Betrachters und der damit verbundenen moralischen Ermahnung macht das Besondere dieser Dekoration aus, deren Doppelbödigkeit symptomatisch für Parmigianinoist, einen Maler, der wie kaum ein anderer zum Inbegriff des intellektuell aufgeladenen Manierismus geworden ist, der von Oberitalien aus den Weg an die Hofkultur des Nordens fand. Auch für ihn war ein längerer Romaufenthalt (1524–1527) entscheidend. Vasari bezeichnete Parmigianino, der wie Raffael nur 37 Jahre alt wurde, sogar als dessen Reinkarnation. Eines seiner bekanntesten Gemälde ist das als Madonna del colle lungo bezeichnete Marienbild der Uffizien von 1535, das von Vasari wegen seiner „maniera, piena di grazia e di bellezza“gelobt wird und das heute als ein Hauptwerk der Malerei des Manierismus gilt. Die schon für Correggios Altarbilder bezeichnende Abkehr von dem traditionellen Schema der Sacra Conversazione ist hier auf die Spitze getrieben.

Als Erfinder des Begriffs „manierismo“ ist Luigi Lanzi anzusehen, der 1792 die dritte Phase der Florentiner und römischen Malerei mit diesem Wort belegt hat. Er verstand darunter einen „Mechanismus, eine Nachahmung nicht der Natur, sondern der wunderschönen Ideen, die in den Köpfen der Künstler geboren wurden“. Ausgangspunkt für diesen Begriff war das Wort „maniera“, das von Vasari zur Kennzeichnung des persönlichen Duktus und Stils eines Künstlers verwendet wird. Zugleich war maniera für ihn aber auch das Synonym für eine gewisse Freiheit von den Regeln der Nachahmung, die jedoch die Ordnung der Regeln akzeptiert. Bereits im späteren 16. Jahrhundert lässt sich eine negative Konnotation dieses Begriffes feststellen, wobei die Vorliebe für den Effekt und die Übersteigerung der Anatomie vor allem mit Michelangelo in Verbindung gebracht wurde. Durch den „Klassizisten“ Giovanni Pietro Bellori wurde der Begriff maniera schließlich zum Synonym für schlechten Stil. Erst im 20. Jahrhundert kam es zu einer Trendwende, die zu einer Rehabilitierung des Manierismus führte, und als Alternative zu der inzwischen als stereotyp und langweilig geltenden Renaissance als Vorläufer der Moderne gefeiert wurde. Daniel Arasse hat den Begriff Manierismus sodann im chronologischen Sinn verwendet, das heißt nicht als Synonym für die stilistische Orientierung, sondern als Epochenbegriff, der der europäischen Ausstrahlung der Stilsprache der Renaissance Rechnung tragen sollte. Er dehnte die Epoche des Manierismus, deren Merkmale sich vorwiegend an den künstlerischen Äußerungen im höfischen Bereich ablesen lassen, sogar bis 1610 aus. Allerdings war für ihn auch schon Raffaels Vertreibung des Heliodor von 1514 >ABB L.XIII.4 ein Werk des Manierismus. Ähnlich zwiespältig ist seine epochale Verortung von Michelangelos Tondo Doni >ABB L.XI.7, den er, obwohlschon 1507 entstanden, als Gründungswerk des Manierismus ansah. Diese Konflikte zwischen dem Stil auf der einen und der Chronologie auf der anderen Seite offenbaren ein grundsätzliches Dilemma, ist doch die Vermischung von stilistischen und epochalen Merkmalen im Begriff des Manierismus und in seiner Geschichte angelegt. Allen neueren Definitionsversuchen gemeinsam ist das Problem, dass sich die Werke ihnen nur partiell fügen. Die Abkehr vom formalen Kanon erfolgte oft unter dem Druck der Personalisierung des Stils, woraus – wie sich an der Wirkung von Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle >L.XII.5XII.7 zeigt − ein neuer Kanon entstehen konnte.

 

zu Lektion XV