Die Thematik und ihre Deutung

Die Forschung geht davon aus, dass ein bildliches Programm vorgegeben war, auf das der Maler in Einzelheiten, wie etwa die Ersetzung der Apostel durch Propheten und Sybillen, zwar Einfluss hatte, das aber schon fest stand, bevor er seine Ausmalung begann. Das Hauptthema der Decke ist die Genesis, das heißt der biblische Zeitabschnitt, der dem Gesetz, also den zehn Geboten Mosis (sub legae) vorangeht, weswegen die Ereignisse dieser Zeit unter dem Begriff ante legem (bzw. lex naturae) subsumiert werden. Die Propheten und Sybillen deuten als Seher auf den dritten Zeitabschnitt hin, der durch die Geburt Christi eingeleitet wird, dem die Wandbilder der Christusseite gewidmet sind, die unter dem Motto sub gratia (bzw. lex evangelica) stehen. Diesem Übergangsbereich sind auch die Vorfahren Christi zuzurechnen, die in den Stichkappen und in den Lünetten unter den Schildbögen sitzen, und die bis zu Abraham zurückreichen. Die drei biblischen Zeitalter und die damit verbundenen Stadien der Menschheitsgeschichte hat der im Umkreis des päpstlichen Hofes lehrende Egidio da Viterbo (1469–1532) kurz nach der Enthüllung der Sixtinischen Decke in die Definition gefasst, Gott habe drei Gesetze erlassen, ein in Adams Natur eingepflanztes, eines auf den Tafeln Mosis und eines in der göttlichen Person Christi. In der Altarwand, die nicht erhalten ist, da sie 1534 dem Jüngsten Gericht weichen musste, war auf der Christusseite (Südwand) die Geburt Christi und auf der Mosesseite (Nordwand) die Auffindung des Mosesknaben dargestellt. Beide Szenen waren nicht nur der Bezugspunkt für die Propheten und Sybillen, sondern auch für die Konzeption der Vorfahren Christi als Familienverbänden. Während Propheten und Sibyllen mit ihren Prophezeiungen als geistige Vorfahren Christi zu verstehen sind, stellen die biblischen Paare, die meisten von ihnen als Familien, die leiblichen Vorfahren Christi und der Heiligen Familie dar. Sie sind sowohl nach ihrer Position innerhalb des Gesamtkonzepts wie auch in der Art der Darstellung deutlich den Sehern untergeordnet. Hinter dieser unterschiedlichen Wertung der leiblichen und der geistigen Vorfahren Christi wird eine verschlüsselte Kritik am Nepotismus vermutet. In einer Predigt des Egidio da Viterbo vor dem Papst und der Kurie heißt es, dass „ein Priester, der sein eigenes Fleisch und Blut gütigst bevorteile, der das Erbe des Petrus auf seine eigenen Söhne, Familie und Verwandtschaft übertrage, dem Gott der enthülle und befehle, ungehorsam“ sei. In der Anordnung der Vorfahren Christi zeigt sich außerdem ein formaler Zusammenhang mit dem Wandzyklus. Die dem Matthäus-Evangelium entnommene Genealogie Christi wird nicht in linearer Abfolge abgehandelt, sondern nach dem Prinzip des Boustrophedon, also der im Zickzackrhythmus von Wand zu Wand springenden Anordnung. Die Abfolge der Sibyllen und Propheten auf den Längswänden folgt ebenfalls diesem Prinzip, das bereits bei den zur älteren Ausstattung gehörenden Papstbildnissen neben den Fenstern befolgt wurde. Auch diese Indizien sprechen dafür, dass die Ausmalung der Decke als Komplettierung des bereits Vorhandenen gedacht war und dass bei der Auswahl und Anordnung der Szenen auf die typologischen Entsprechungen zwischen Altem und Neuem Testament Wert gelegt wurde.

Im rhythmischen Wechsel mit den fünf Propheten auf den Längswänden alternieren fünf Sibyllen (in der Abfolge von Osten nach Westen: Libica, Persica, Cumaea, Erithrea, Delphica). Statt der damals üblichen Kombination von Propheten und Sibyllen auf der Grundlage der Sechsergruppierung ergibt sich ein Verhältnis von sieben Propheten zu fünf Sibyllen. Die sieben von Michelangelo ausgewählten Propheten, davon zwei auf den Schmalseiten, sind neben den vier sogenannten großen Propheten (von Osten nach Westen: Jesajas, Ezechiel, Daniel, Jeremias) drei der kleinen Propheten, nämlich Jonas über dem Altar, Zacharias über dem Eingang und rechts neben ihm — im ersten Joch der Längswand — Joel, dessen Prophezeiung sich auf das für die Kapelle wichtige Pfingstfest bezieht. Auf diese Weise addieren sich die Fünfergruppen der beiden Längsseiten zu einer geraden Zahl und ergeben eine symmetrische Konstellation. Auch die beiden Schmalseiten entsprechen sich, da sich hier zwei Propheten gegenüberstehen. Mit einem ähnlichen Kunstgriff wird auch die ungerade Anzahl der neun Bildfelder im Deckenspiegel in ein regelmäßiges System umgewandelt. Mit je einem Bildfeld, das wie eine Kassettenfüllung in den gemalten Gurten eingefügt ist, wechseln große Felder ab, die in die Zwischenräume der Spannbögen gesetzt sind. Der Wechsel zwischen geschlossenen und geöffneten Travéen erzeugt einen Rhythmus mit einer deutlich markierten Mittelachse, die ein kleines Bildfeld aufweist, in dem die Erschaffung Evasdargestellt ist. Genau unter dieser Szene befand sich ursprünglich die später nach Osten versetzte Marmorschranke zwischen den beiden Raumteilen, von denen der östliche Teil dem Papst und seinem engeren Gefolge vorbehalten war. Von dieser Mittelachse aus sind beide Teile der Decke seitensymmetrisch. Die Szene der Trunkenheit Noahs markiert die Zäsur, die das Zeitalter der Genesis (lex naturae) von dem Zeitalter der Patriarchen trennt, das in der Reihe der Vorfahren Christi veranschaulicht ist.

Wichtige „Schaltstellen“ von dem auf Symmetrie gegründeten Sechser-System der Wände (sechs Wandbilder, sechs Fensterachsen, zwölf Papstbildnisse) zum unsymmetrischen System der Decke sind die vier Eckzwickel mit alttestamentarischen Szenen. Gemäß der typologischen Struktur, die für das Programm der ganzen Kapelle maßgeblich war präfigurieren sie Ereignisse des Neuen Testaments: die Darstellung Judith und Holofernes verweist auf Maria als Apokalyptisches Weib, David und Goliath auf Christus, während sich die Aufrichtung der Ehernen Schlange und Hamans Kreuzigung auf die Kreuzigung Christi beziehen . Auch innerhalb des formalen Systems der Decke fungieren die Eckzwickel als Schnittstellen, die zwischen Schmal- und Längswänden vermitteln und den auf ungeraden Zahlen basierenden Rhythmus der Decke vorgeben. Indem Michelangelo die beiden über Eck stehenden Stichkappen zu einem großen Bildfeld verband, reduzierte er die Stichkappen jeder Längswand von sechs auf vier und gewann dadurch je fünf Zwickel für die Propheten und Sybillen. Die daraus folgende Paarbildung von Jonas und Zacharias auf den beiden Schmalseiten erlaubte ihm eine besondere Herausstellung dieser beiden Propheten, die besonders deutlich an der bewegten Gestalt des Jonas hervortritt, der nicht nur durch seine Position, sondern auch durch Blickrichtung und Gestik hervorgehoben ist. Wie Rohlmann erkannt hat, kommt ihm für das Papsttum eine besondere Rolle zu, da Petrus von Christus in der Szene der Schlüsselübergabe als Sohn des Jonas bezeichnet wird. Jonas blickt zu den Deckenbildern auf und weist mit dem rechten Arm auf den Thron des Papstes. Damit stellt er eine direkte Verbindung zwischen dem gegenwärtigen Stellvertreter Christi und dem Beginn und dem Plan der Heilsgeschichte her. Zusammen mit den anschließenden Zwickelbildern, in denen ebenfalls der Gedanke von Verdammung und Erlösung anklingt, wurde Jonas zur ikonographischen Rechtfertigung für die spätere, sich nicht unbedingt aus dem übrigen Programm ergebende Darstellung des Jüngsten Gerichtesauf der Altarwand >L.XII.7. Jonas erkennt, dass die Trennung von Licht und Finsternis Ursprung der Kräfte des Guten und des Bösen ist, deren Kampf in den beiden Zwickeln ausgetragen wird und der das Leitthema des Jüngsten Gerichtes ist . Die forcierte Wendung des Propheten zur Decke zieht den Blick des Betrachters auf das Gewölbe. Sein staunender Gesichtsausdruck thematisiert aber nicht nur den Rezeptionsprozess des Betrachters, sondern sein Ausdruck der Überwältigung bezieht sich auch auf die Malerei Michelangelos. Deutlich wird dies an den Aussagen der Zeitgenossen, die gerade dieser an einer für die Wahrnehmung des Ganzen prominenten Stelle befindlichen Figur höchste Bewunderung zollten. Indem Jonas Bewunderung zeigt, ruft er als virtuose Kunstfigur selbst eine Bewunderung hervor, die der Betrachter auf den Maler bezieht: „Michelangelos Deckenfresken zielten auf die Überwältigung des Publikums. Sie steigerten das sinnliche Erlebnis der Teilnehmer bei den großen liturgischen Feiern, in denen der Papst und die Kurie sich und die Herrlichkeit Gottes zu inszenieren suchten. Michelangelos Fresken rühmen die Vollkommenheit von Gottes Schöpfung, die Heilsbotschaft seiner Liebe und die Majestät seiner päpstlichen Vertreter auf Erden, um den Betrachter zu staunender Bewunderung zu führen".

Inhaltlich ist die Sixtinische Kapelle eine „fortwährende Bildreflexion über die Heilsgeschichte und die Stellung des Papstes“, wobei „jedes neue Bildelement Aspekte der vorausgehenden Ausstattung“ aufgreift, ohne dass es sich um die die „konsequente Umsetzung eines einmal festgelegten Programmes“ handelte . Die Übertrumpfung der Wandgemälde durch die 25 Jahre nach ihnen entstandenen Deckengemälde bedeutet auch stilistisch eine epochale Zäsur innerhalb der monumentalen Wandmalerei. Die Unterschiede der Malerei des 15. und des 16. Jahrhunderts werden hier so unmittelbar anschaulich, dass sie wie eine Demonstration des von Vasari vertretenen Entwicklungsgedankens in der Malerei erscheinen. Das gilt auch für das überdimensionale Einheitsbild des Jüngsten Gerichtes, das Michelangelo von 1536 bis 1541 auf der Altarwand dargestellt hat.

 

zu 6. Die Aufträge Leos X. für San Lorenzo in Florenz