Michelangelos historische Bedeutung
Michelangelo blieb für einen großen Teil seines langen Lebens eng mit seiner Vaterstadt Florenz >L.XI.4 verbunden. Davon zeugen dort bis heute seine Werke in der Kirche und im ehemaligen Konvent von San Lorenzo >L.XII.6, sowie der David in der Galleria dell’Accademia >L.XI.1. Erst 1534 gab er das Florentiner Domizil auf und verbrachte das letzte Drittel seines Lebens in Rom, wo dann auch seine bedeutendsten Werke – wenigstens auf dem Gebiet der Architektur − entstanden sind. Dass er dennoch zur Identifikationsfigur der Florentiner Kunst wurde, ist nicht nur seinen Werken in Florenz >L.XI.1, L.XI.4, sondern Giorgio Vasari geschuldet, der sich als sein geistiger Nachlassverwalter verstand. Schon die erste Ausgabe seiner Vitensammlung von 1550 enthielt eine umfangreiche Biographie Michelangelos, der so der einzige lebende Künstler war, dem diese Ehre zuteil wurde. Der mit Michelangelo befreundete Ascanio Condivi veröffentlichte 1553 eine weitere Biographie, die viele von Vasaris Angaben korrigierteund die Vasari in der zweiten wesentlich erweiterten Biographie in der Edition von 1568 teilweise berücksichtigt hat. An den Beginn dieser überarbeiteten Biographie stellt er einen Passus, der in einer blasphemischen Anmaßung und Überhöhung das Wirken und Leben dieses Künstlers als göttliche Sendung versteht. Angesichts der Irrtümer und der Unfähigkeit der Menschen und der Ergebnislosigkeit ihrer Mühen habe der Herrscher des Himmels einen Geist auf die Erde entsandt, der so universal begabt gewesen sei, dass er in jeder Kunst und in jedem Beruf zur höchsten Perfektion gelangte. Damit seine himmlische Sendung erkannt werde, habe er ihm die „Gabe der wahren Weisheit” (vera filosofia morale) und der „süßen Poesie” (dolce poesia) verliehen. Und da Gott außerdem gewusst habe, dass die mit Genius begabten Toskaner allen anderen Italienern überlegen seien, habe er beschieden, diesem überlegenen Geist Florenz als Vaterstadt zu geben. Michelangelo wurde damit zum artista divino stilisiert. Bei der Konstruktion dieses Mythos ging es für Vasari auch um seine eigenen kultur- und karrierepolitischen Interessen. Mit der Erhebung Michelangelos auf den Thron der Vollkommenheit begründete er den Anspruch der Toskana und der Stadt Florenz auf die künstlerische Führungsrolle, die, untermauert durch seine die Vitensammlung, über die eigene Zeit hinaus festgeschrieben werden sollte. In diesem Konzept wurde die Zeichnung (Disegno) zur absoluten Instanz der Vollkommenheit, dessen Herrschaft sich die drei Künste (Malerei, Skulptur und Architektur) unterordnen sollten >L.I.2. Aus Vasaris Sicht war Michelangelo kraft seiner Universalität der Garant dieses Systems, das in der 1563 gegründeten Florentiner Accademia del Disegno verankert wurde. Die Instrumentalisierung seines Werks und seiner Person kulminierten in der Überführung des Leichnams nach Florenz und in den mit großem Pomp und spektakulär ins Werk gesetzten Exequien in San Lorenzo. Vasaris Beschreibung der Beisetzungsfeierlichkeiten und der Apparate, in denen die jüngeren Florentiner Künstler Michelangelos Leben und Schaffen visualisierten, markierten den Beginn eines Kultes, der in Florenz die Jahrhunderte überdauerte. Das künstlerische Bekenntnis zu Michelangelo war dagegen von begrenzter Dauer. War er vor allem für die Malerei zunächst richtungweisend geblieben, versiegte seine Vorbildfunktion weitgehend für die Generation der nach 1580 geborenen Künstler akademischer Prägung. Normativ blieb lediglich der Kanon, den er in der Sixtinischen Decke mit den Aktposen seiner ignudi geschaffen hatte. Erst im späten 18. Jahrhundert wurde Michelangelo durch die Künstler des „Sturm und Drang” und der englischen Romantik zum Genie verklärt und seine künstlerische Größe „wiederentdeckt“. Der im 19. Jahrhundert einsetzende Mythos um Werk, Dichtung und Person war allerdings dann mehr ein Thema der Kunstgeschichte als der Kunst.