Michelangelos erster großer Auftritt: Der „Gigant“ des David

Nach seinem ersten Aufenthalt in Rom (1496–1501) kehrte Michelangelo in den ersten Monaten des Jahres 1501 auf Einladung der Florentiner Stadtregierung (Signoria) nach Florenz zurück. Ihm voraus eilte der Ruhm, den er sich in Rom durch die in Alt-St. Peter aufgestellte Gruppe der Pietàund durch die ganz im Stil einer antiken Statue gearbeitete Freifigur eines Trunkenen Bacchus erworben hatte. Anfang Juli 1501 beschloss die Verwaltung der Dombauhütte (Opera del Duomo), dass der behauene Marmorblock mit einer von Agostino di Duccio schlecht bossierten Figur „vocato Davit“, der seit Jahrzehnten im Hof der Dombauhütte lag, aufgerichtet werden solle, um zu prüfen, ob er noch verwendbar wäre. Es handelte sich dabei um ein Werkstück, das ursprünglich auf einem der Strebepfeiler der Chorkapellen des Doms Aufstellung finden sollte [LIT= Steiner 2009, 16–22]. Sechs Wochen später, d.h. am 16. August 1501, erhielt Michelangelo den Auftrag für diese Statue, wofür man ihm zwei Jahre einräumte. Der Konkurrent, gegen den er sich hierbei durchsetzte, war Andrea Sansovino. Im Unterschied zu dessen Vorschlag verpflichtete sich Michelangelo, die Figur aus dem vorhandenen Block und ohne Anstückungen zu arbeiten. Die Dokumente, die über die genaueren Umstände unterrichten, legen ein beredtes Zeugnis ab für die Ausnahmestellung dieses Auftrages, die offenbar allen Beteiligten bewusst war. Michelangelo, der für seine Arbeit 400 Golddukaten erhielt, arbeitete etwas mehr als zweieinhalb Jahre an dem Werk, das er mit einer überdachten Einhausung ummanteln ließ. Dies bedeutete erhebliche zusätzliche Schwierigkeiten. Abgesehen vom geringen Tageslicht hatte er keine Möglichkeit, die Figur aus größerer Distanz zu betrachten. Als Arbeitsgrundlage diente ihm Vasari zufolge ein Wachsmodell. Erhalten hat sich jedoch nur eine Zeichnung für den rechten Unterarm. Der Sänger, Prophet, König und Psalmendichter David, der als Hirtenknabe den Philister Goliath enthauptet, nachdem er ihn mit einer Steinschleuder zu Boden gestreckt hatte (1. Sam. 17), war in Florenz seit langem positiv konnotiert, wie die Bildschöpfungen Donatellos und Verrocchios belegen >L.V.6. Anders als seine Vorgänger zeigt Michelangelo ihn nackt, mit der über die Schulter nach hinten geworfenen Steinschleuder, und verleiht ihm eine innere Spannung, in der sich äußerste Wachsamkeit und jugendliche Lässigkeit verbinden.

Die Frage der künftigen Aufstellung dieser damals größten Statue der Nachantike war so wichtig, dass die für die Dombauhütte zuständige Zunft der Wollweber (Arte della Lana) am 25. Januar 1504 eine 30-köpfige, aus allen wichtigen Florentiner Künstlern bestehende Kommission anhörte, um diese Frage zu klären. Viele Künstler, unter ihnen auch Giuliano und Antonio da Sangallo sprachen sich für die Aufstellung in der Loggia della Signoria (Loggia de’Lanzi) aus, andere votierten für den Innenhof des Palazzo della Signoria, bzw. für den Platz vor dem Dom und einige sogar für den ursprünglich vorgesehenen Platz auf einem der Strebepfeiler der Chorkapellen des Doms. Der erste Herold des Großen Rats (gonfaloniere perpetuo) plädierte dagegen für die ringhiera (Podium) vor dem Palazzo della Signoria und zwar für die Stelle, an der sich seit 1495 Donatellos Judithbefand, weil sie – so lautete seine Begründung – in den zehn Jahren, die sie dort aufgestellt war, der Stadt kein Glück beschert habe. Allein an dieser Äußerung zeigt sich die politische Dimension des Auftrages. Möglicherweise war der aktuelle Hintergrund die komplizierte und fragile Situation, in der sich die mit den Ansprüchen Cesare Borgias und der Medici konfrontierte Republik Florenz zu diesem Zeitpunkt befand >L.VIII.5. Entscheidend war letztlich das Votum des von der Sitzung ausgeschlossenen Bildhauers für diese Lösung, das der Versammlung offenbar in schriftlicher Form vorlag. Wenn man Vasari glaubt, interpretierte Michelangelo die Statue als Symbol für die Verteidigungsbereitschaft der Stadt gegenüber ihren Feinden. Dies könnte erklären, warum er vorschlug, den Gigante vor dem Palazzo della Signoria aufzustellen. Nachdem Donatellos Judith versetzt worden war, wurde der von einem Holzkäfig geschützte, fast 4,50 m hohe Koloss im Mai 1504 in einer vier Tage währenden Aktion zu seinem zukünftigen Standort gebracht. Mit dem Giganten, wie man die Statue von Anfang an nannte, erhielt die Stadt Florenz ein Emblem, das dank seiner Größe, seines Standortes und seiner Aussage alle politischen Umbrüche überdauerte. Nach Ansicht der Zeitgenossen hatte Michelangelo die Antike übertrumpft. Als Kriterien dafür galten die Größe, die Lebendigkeit der Pose und des Ausdrucks, die exakte Wiedergabe des nackten Körpers und die künstlerische und technische Bravur. Was Brunelleschi mit der Domkuppel für die Architektur vollbracht hatte, war Michelangelo für die Skulptur gelungen. Obwohl die Proportionen der Statue nicht dem antiken Kanon entsprechen – besonders deutlich wird dies am Kopf und an den Händen – war der David die erste freistehende und überlebensgroße Figur der Neuzeit im Kontrapost und in unverhüllter Nacktheit. Das früheste bildliche Zeugnis der Statue ist eine um 1504 entstandene Zeichnung von Leonardo da Vinci, der Mitglied der Kommission war, die über ihren Aufstellungsort zu entscheiden hatte. In Leonardos Interpretation wird die eckige und schlaksige Jünglingsgestalt jedoch zu einem virilen und agilen Athleten, der dem antiken Ideal deutlich näher steht als das Original. Auch Raffael hat sich zeichnerisch mit der Statue des David auseinander gesetzt. Er hat ihn in starker Unteransicht und von hinten dargestellt und erfasste aus dieser ungewöhnlichen Perspektive „die zielgerichtete Konzentration der Figur, aus der die Körperhaltung resultiert.“

zu 2. Die Sala del Maggior Consiglio und ihre Ausmalung