Die „antiklassische“ Renaissance in Oberitalien und das Erbe Raffaels

Das Thema dieser Lektion ist die Malerei der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in den oberitalienischen Zentren mit Ausnahme von Venedig >L.XVI. Anders als Vasaris auf die Toskana und Rom gerichtete Perspektive suggeriert, waren diese Zentren reich an großen und originellen Talenten, die sich auf in die Zukunft weisende Neuigkeiten einließen. Um für diese Vielfalt an künstlerischer Produktion und die den unterschiedlichen Strömungen angemessene Parameter zu finden, seien einige Bemerkungen zu den methodischen Grundlagen für die historische Darstellung und Rezeption der Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts vorausgeschickt. Während für die Kunst in Rom und Florenz Begriffe wie Renaissance und Manierismus angemessen erscheinen, passen Künstler wie die Brescianer Maler Giovan Gerolamo Savoldo und Alessandro Buonvicino gen. il Moretto oder der Mailänder Bernardino Luini kaum in diese Raster. Die ältere Kunsthistoriographie stand bei der epochalen und qualitativen Bewertung der Kunst in den kleineren italienischen Territorien oft vor dem Dilemma, dass diese sich nicht auf eine lokal verankerte schriftlich-historische Überlieferung oder auf einen kunsttheoretischen Überbau zurückführen ließ, sondern sich aus der künstlerischen Praxis definierte. Bei den Künstlern, um die es in dieser Lektion geht, sind oft nicht einmal die Lehrer und die Orte der Ausbildung bekannt. Der Grund dafür ist das Defizit an schriftlichen Quellen, die eine gut fundierte historische Darstellung ermöglichen würden. Künstlerdynastien, die in diesen Territorien über mehrere Generationen tätig waren, partizipierten nicht oder nur partiell am „Fortschritt“, den Vasari für die Situation in der Toskana als beispielhaft ausgewiesen hat. Territorien, die wie Bologna und Umbrien infolge der expansiven Politik Julius’ II. dem Kirchenstaat zufielen, übernahmen erst nach 1500 den Normenkanon von Florenz und Rom. Andere bewahrten sich ihre Eigenheiten: „Die Peripherie konnte nicht nur ein Ort der Rückständigkeit, sondern auch einer der alternativen Produktionen sein“. Eine kritische Position kommt in diesem Kontext dem Begriff des Manierismus zu L.XIV.11. Künstler, die sich dem Sog zu den Zentren und den normgebenden Regeln entzogen oder ihnen entflohen, kamen in Vasaris Urteil meistens nicht gut weg.

 

zu 1. Vasaris Entwicklungsmodell und seine Grenzen