Giulio Romano in Mantua

Zu den Faktoren, die eine nachhaltige Veränderung der künstlerischen Maßstäbe in Oberitalien und im nördlichen Europa bewirkte, gehört die Tätigkeit Giulio Romanos (1499–1546) in Mantua. Sie ist in gewisser Weise das Gegenstück zu Sebastiano del Piombos Assimilierung an den römischen Geschmack. Allerdings war dieser Transfer nach dem Norden ungleich folgenreicher, was letztlich auf die praktische Überlegenheit der von Raffael entwickelten Werkstattorganisation zurückzuführen ist. Als Fünfzehnjähriger war Giulio Romano in Raffaels Werkstatt eingetreten und stieg schnell zu seinem wichtigsten Mitarbeiter auf. Nach Raffaels Tod blieb er zunächst ganz in den Bahnen des Meisters, der ihn zu seinem Erben eingesetzt hatte. Dies zeigen seine Werke aus diesen Jahren. 1524 wurde er zum künstlerischen Generalintendanten des jungen Federico Gonzaga ernannt, der wichtige Jahre seiner Kindheit und Jugend als Geisel am römischen Hof verbracht hatte, wo er mit Michelangelo und Raffael in Kontakt gekommen war. Giulio Romano wurde durch die Berufung nach Mantua die entscheidende künstlerische Persönlichkeit, die 22 Jahre lang für sämtliche Bedürfnisse des Gonzaga-Hofes verantwortlich war. Seine Zuständigkeit umfasste neben Architektur und Malerei auch die Apparate von Fest- und Theateraufzügen und die Gestaltung von Prunkgeschirren und Rüstungen. Seine Stellung in Mantua entsprach im Wesentlichen dem Spektrum, das schon Andrea Mantegna zu beaufsichtigen hatte >L.VI.4. Die Wirkungen seiner Tätigkeit waren jedoch dank des modernen Managements, das er dafür einsetzte, um ein Vielfältiges effektiver und vor allem sehr viel sichtbarer. In wenigen Jahren, von 1526 bis 1530, errichtete er auf unerheblichen älteren Resten den Palazzo Te, einen stattlichen Palast, der die Funktion einer repräsentativen und stadtnahen villa suburbana erfüllte, und dies mit einer zwar bekannten Syntax, aber in einer neuen Tonart.

Als Karl V. im März 1530, einen Monat nach seiner Krönung zum Kaiser durch Clemens VII. in Bologna (24.2.1530) zum ersten Mal nach Mantua kam, wo er mit einer von Giulio Romano entworfenen ephemären Festarchitektur empfangen wurde, lud ihn der Hausherr in diesen Palast ein, der sich im Glanz seiner weitgehend vollendeten exquisiten Ausstattung zeigte. Im Saal der Psyche war für die Kammerherren des Kaisers aufgedeckt, im Ehrenhofparadierten zwei prunkvoll aufgesattelte Rosse aus der Pferdezucht der Gonzaga. Anschließend wurde zum Schein von Fackeln in dem großen Saalgespeist und getanzt und als schließlich der Morgen dämmerte, endete das Fest im großen Hof mit seinen von Brücken überfangenen Fischbecken und dem Blick auf die Exedra, die ganz der Typologie der antiken Villa entsprach. Die zeitgenössischen Beschreibungen dieses berühmten Festes, das die am 8. April 1530 von Karl V. vorgenommene Erhebung der Gonzaga in den Herzogsstand feierte, lassen ahnen, dass die Magnifizenz der antiken Kaiservillen hier durch die Inszenierung des Festgeschehens evoziert wurde, obwohl der Kaiser nur Gast war. Mit der Kunstpatronage, die Federico Gonzaga in den mehr als zwanzig Jahren seiner Herrschaft (1519–1540) ausübte, etablierte sich in Mantua eine formenreiche und phantasievolle profane Kunst, deren Themen vor allem der Mythologie und der römischen Geschichte entstammen. Die Mutation einer in Rom vor allem für geistliche und politisch-religiöse Bedürfnisse geschaffenen Malerei zu einer weltlichen und teilweise provokativ erotischen Kunst ist der historisch bedeutsamste Aspekt von Giulio Romanos Tätigkeit als Maler und Entwerfer in Mantua. Vor allem im Palazzo Te bedient er sich des Kunstmittels der scherzhaften Irreführung des Betrachters, indem Keilsteine und Triglyphen des dorischen Gebälks scheinbar herabrutschen, Giebelüberdachungen zerbersten, die Säulen des Vestibüls in der Bosse belassen sind oder die Fenster des Ehrenhofes gemalt sind. Obwohl der Bau in verputztem Ziegelmauerwerk ausgeführt ist, täuscht er durch die Rustikagliederung einen martialischen und robusten Charakter vor. Giulio Romano implantierte in Mantua den Stil und die Methoden Raffaels, der dank des extrovertierten Lebensstils, der an diesem Hof herrschte, zu einer vorwiegend profan konnotierten Hofkunst wurde, die ihrerseits zum maßgeblichen Vorbild der künstlerischen Repräsentation an einer Vielzahl von europäischen Höfen wurde. Dieser Dominoeffekt war die Folge des großen Mitarbeiterteams, das er engagieren musste, um die Vielzahl der Aufgaben zu bewältigen. Der Palazzo Te und die städtische Residenz, der Palazzo Ducale, wurden binnen weniger Jahre zu maßgeblichen Modellen der neuen europäischen Hofkultur. Zahlreiche Reisende und ihre Berichte belegen den ungeheuren Erfolg, den diese an Effekten und Überraschungen reiche Ausstattungskunst hatte. Einer von Giulio Romanos frühesten Mitarbeitern war der Bolognese Francesco Primaticcio(1504–1570), der von 1526–1532 in der sala degli stucchi im Palazzo Te arbeitete, bevor er anschließend nach Frankreich ging, wo er unter Rosso Fiorentino >L.XV.5 an der Ausstattung von Fontainebleau mitwirkte, bevor er 1540 selbst zum Generalintendanten aufstieg. Das von Raffael entwickelte Modell wurde in Fontainebleau mittlerweile in der dritten Generation perpetuiert, was erklärt, dass sich die künstlerischen Ausdrucksmittel zunehmend verselbständigten und die Merkmale einer „Hyperkunst“ – das heißt einer auf den Stil bedachten – Kunst ausbildeten, wozu die sowohl von Raffael und seinen Schülern wie auch von Primaticcio als Medium der Multiplikation genutzte Druckgraphik wesentlich beitrug.

Eine der frühesten Imitationen der Bauten Giulio Romanos in Mantua und ihrer Ausstattungskunst ist der im Auftrag Herzog Ludwigs X. von Bayern geschaffene „Italienische Bau“ der Landshuter Stadtresidenz, die ab 1537 unter Beteiligung von aus Mantua berufenen Künstlern errichtet wurde. Die Übernahmen sind in einzelnen Fällen so direkt, dass man fast von Zitaten sprechen kann. Verglichen mit seinen römischen Vorbildern − der Villa des Agostino Chigi, der Villa Madama und den vatikanischen Loggien >L.XIII.8>L.XIII.10 − ist der Ausdruckskanon in Mantua opulenter und effektvoller, was zum Teil auf Kosten der Eleganz und der Qualität der Ausführung geht. Auf den Wänden des Saales der Psyche, deren Vorbild die Loggia der Psyche in der Villa des Agostino Chigi ist >L.XIII.10, entfalten sich opulente und figurenreiche Gelage. Die Deckenbilder der römischen Villa sind hier in die Realität eines irdischen Gastmahls übersetzt, während die dramatische Geschichte der Psyche effektvoll und textgetreu in den kleinteiligen Feldern der gewölbten Decke erzählt wird. An die Stelle der versteckten erotischen Anspielung, mit der sich die Ausstattung der Villa des Agostino Chigi begnügt hatte, sind in Mantua deftige und eindeutige Szenen und Motive getreten. Aber nicht nur in sinnlicher Hinsicht wird geschwelgt, sondern auch in anderen lauten Effekten. Den Höhepunkt des Spektakels bietet der Saal der Giganten mit der kaum überbietbaren Inszenierung des einstürzenden Reiches der ob ihrer Größe zwar Furchterregenden, aber in ihrer karikierten Tölpelhaftigkeit kaum ernst zu nehmenden Riesen, über die Jupiter triumphiert. Der Hintergrund für dieses auf Jupiter abgestimmte Bildprogramm war der zweite Besuch Kaiser Karls V. in Mantua im November 1532. Es ist überliefert, dass zumindest die Decke mit dem Blitze schleudernden Jupiter und dem luftigen Tempel, in dem der kaiserliche Adler unter einem Baldachin thront, bei diesem zweiten Besuch des Kaisers vollendet waren. Die politischen Anspielungen in diesem Bildprogramm sind unverkennbar. Das mit Ironie gewürzte Durcheinander der barbarischen Giganten war und ist der Höhepunkt des Rundganges durch das ausschließlich im Erdgeschoss gelegene Appartement. Sichtlich angeregt durch das Mantuaner Fresko wählte Perino del Vaga wenige Jahre später für den Doria-Palast in Genua das gleiche Thema. Die gelungene Überraschung durch das Ungewöhnliche ist ein wesentliches Anliegen des neuen Stils der rauschenden und lauten Inszenierung. Die Tätigkeit Giulio Romanos in Mantua war auch deswegen so erfolgreich, weil Mantua eine wichtige Scharnierfunktion zwischen Ost und West und zwischen Nord und Süd hatte. Dies war entscheidend für die Wirkung, die von diesem neuen Modell moderner Hofkultur ausging. Dass es in den gesamten oberitalienischen Bereich ausstrahlte, hing mit der Vielzahl von Künstlern und Handwerkern zusammen, die hier zusammenkamen.

 

 

zu 6. Isabella d'Este und die Mantuaner Hofkunst