Leonardo und das neue Andachtsbild

Während Leonardo mit seinem Gefolge (famiglia) in der Gästewohnung des Klosters der Serviten von Santissima Annunziata logierte, hatte er hier 1501 einen kleinen Karton mit der Hl. Anna Selbdritt ausgestellt, der die Künstler und „das ganze Volk zum Staunen brachte.”Obwohl Vasaris Beschreibung mit keinem der erhaltenen Werke Leonardos übereinstimmt, konnte die Komposition mit Hilfe von Beschreibungen und Kopien identifiziert werden. Was war der Grund dafür, dass dieser Karton solches Aufsehen erregte? Abgesehen davon, dass Leonardo die Präsentation geschickt in Szene gesetzt hatte, wich seine Komposition in einem entscheidenden Punkt von dem bis dahin üblichen Schema des Andachtsbildes ab. Abgesehen von wenigen Ausnahmen hatte das Marienbild bis dahin auch in Florenz eine statische Ikonenhaftigkeit bewahrt. Deutlich wird dies beim Blick auf Masaccios damals in der Kirche S. Ambrogio befindliche Darstellung des gleichen Themas, das Anna, Maria und das Christuskind in strenger Axialitätzeigt. Leonardo, der den Vergleich mit Masaccio vielleicht sogar beabsichtigte, deutet das seiner Botschaft nach rein dogmatische Thema als familiäre Szene vor einem anmutigen Landschaftshintergrund. Dies geschieht jedoch in einer Weise, die den theologischen Sinn des kindlichen Spiels mit dem Lamm und der Gesten und Bewegungen der beiden Frauen erschließt. Den Beleg dafür, dass die Komposition so gedeutet wurde, liefern die Worte, mit denen Pietro da Novellara am 3. April 1501 Leonardos Komposition geschildert hat. Gesten, Bewegungen und Handlungen, die dem Verhalten von wirklichen Kindern und Müttern ähnelten, verliehen der heilsgeschichtlichen Botschaft eine intime und menschliche Dimension, die ihre Glaubwürdigkeit erhöhte. Diese neue Auffassung sollte eines der entscheidenden Fermente für Raffaels Erfolge als Maler der Maria und der hl. Familie werden. Seine um 1507 in Florenz entstandene Hl. Familie mit dem Lammgeht direkt auf Leonardos Komposition von 1501 zurück.

Auch Michelangelos Madonnenreliefs für Taddeo Taddeiund für Bartolomeo Pitti, die ebenfalls in diesen Jahren entstanden, sind mit Leonardos Komposition in Verbindung gebracht worden. Anscheinend wirkte dessen neue Sicht auf das private Marienbild so stimulierend, dass vermögende Florentiner Bürger Interesse an neuen und zeitgemäßen Formulierungen dieses Themas zeigten, die den Rahmen der Tradition verließen. In diesem Klima, das jedoch zugleich von der sich zwischen Leonardo und Michelangelo entwickelnden Konkurrenz geprägt war >L.XI.4, entstand ein Gemälde, mit dem sich Michelangelo erstmals als Maler und zugleich als Erfinder eines neuen Stils präsentierte, der radikal mit den Konventionen des Themas brach. Entsprechend kategorisch fiel Jacob Burckhardts Urteil aus: „Mit einer Gesinnung dieser Art soll man überhaupt keine heiligen Familien malen.“ Der Auftraggeber des Bildes war der Florentiner Kaufmann Agnolo Doni. Ob der Anlass für den Auftrag an Michelangelo seine Hochzeit mit Maddalena Strozzi im Januar 1504 war, wie die ältere Literatur annahm, oder die Geburt eines ihrer beiden Kinder, ist umstritten. Für die letztere These spricht die Pose einer der nackten Figuren des Hintergrundes, die von der im Januar 1506 in Rom aufgefundenen Laokoon-Gruppe übernommen ist. Auf einen Zusammenhang mit der Geburt der Tochter Maria (1507) deutet auch die ungewöhnliche Form und Rahmung des Bildes. Der Tondo Doni besitzt einen sehr reich gearbeiteten Rahmen mit den Wappen der Auftraggeber und fünf vollplastischen Köpfen (Christus, zwei Propheten und zwei Sybillen) und mit den Wappen der Familie, der an die Florentiner Sitte des desco da parto denken lässt, jene in Florenz üblichen Präsente, die den jungen Müttern aus gutem Hause nach der Niederkunft überreicht wurden >L.V.3. Stilistisch hat Michelangelo hier schon die Sprache gefunden, derer er sich in der Sixtinischen Decke in monumentalem Maßstab bedienen sollte >L.XII.4. Die gewagte Bildkomposition ist nur vor dem privaten Hintergrund des Auftrags verständlich. In keiner Kirche und an keinem öffentlichen Ort wäre eine athletische Muttergottes akzeptabel gewesen, die auf dem Boden kniet und ihre bis zu den Achseln entblößten Arme nach oben streckt, um das auf ihrer Schulter balancierende Jesuskind zu stützen, das ihr in die Haare greift. Die nackten Jünglinge, die – abgetrennt durch eine Mauer – den Hintergrund bevölkern, und mit denen der Künstler laut Vasari sein großes Können zeigen wollte, werden als Allegorien auf die Taufe gedeutet, auf die auch der hinter dem horizontalen Balken sichtbare Kopf des Täuferknaben verweist. Die Anregung für dieses ungewöhnliche Motiv wird auf ein Marienbild zurückgeführt, das Luca Signorelli für Lorenzo de’Medici gemalt hatteund das Michelangelo, der in seiner Jugend einige Jahre in Lorenzos Haushalt gelebt hatte, bekannt gewesen sein dürfte. Wie rasch die künstlerische Wirkung des Tondo Doni erfolgte, lässt sich an der direkten Auseinandersetzung Raffaels mit diesem Werk zeigen, die dadurch begünstigt wurde, dass Raffael das Ehepaar Donietwa zur gleichen Zeit porträtiert hat. Die Haltung der Maria kehrt seitenverkehrt in der auf dem Boden knienden Frau der Grablegung wieder >L.XI.8, während das Christuskind der Madonna di Folignoseitenverkehrt die Pose des Kindes von Michelangelo wiederholt.

zu 8. Raffael und Leonardo