Poesia und Justitia

Auf der Fensterwand zum Cortile del Belvedere befindet sich das unter der Herrschaft der Poesie stehende Wandbild mit dem Parnass. Die Poesie wird hier „als eine nur durch göttliche Inspiration mögliche Kunst“verbildlicht. Der verzückt gen Himmel blickende Apollo mit der viola da braccio ist als Führer der Musen, als Urheber der Dichtkunst und als Beschützer des vatikanischen Hügels dargestellt. Er wird von den Musen umringt, die hier erstmals in der nachantiken Kunst mit Attributen gekennzeichnet sind, darunter Instrumenten, die man aus den antiken Musensarkophagen kannte. Insgesamt vier Gruppen rahmen die zentrale Hauptgruppe, deren Verteilung sich durch die geschickte kompositionelle Einfügung der Fensteröffnung in das Bildfeld ergibt. Links schließt sich eine Gruppe an, deren Mittelpunkt der blinde Homer als Hauptvertreter des Epos ist, der wie Apollo gen Himmel schaut, neben ihm stehen Dante und Vergil. Unten links sind neben der namentlich bezeichneten Sappho antike und moderne Vertreter der Lyrik zu sehen. Die Gruppe rechts oben ist weniger eindeutig einer bestimmten Dichtungsgattung zuzuordnen. Hier sind außer Boccaccio, Properz und Tibull einige am Hofe Julius II. lebende Dichter wie Ariost, Baldassare Castiglione und Fedro Inghirami dargestellt, während der prominente greise Dichter in der Gruppe rechts neben dem Fenster mit seinem ausgestreckten Arm in die Welt der Betrachter hineinweist. Seine entschiedene Geste verbindet den im Bild evozierten antiken Parnassus mit dem neuen Parnass des Vatikans. Julius II., der selbst Dichterkrönungen vornahm, wurde in panegyrischen Gedichte als neuer Apollo gepriesen.

Für die vierte Wand, die durch das zum Hof weisende Fenster zweigeteilt ist, war ursprünglich die Darstellung der Öffnung des Siebten Siegels (Offenbarung Johannis) vorgesehen. Als Grund für die Programmänderung wird die im Juni 1511 von Julius II. in Bologna erlittene Niederlage angesehen. Zu beiden Seiten des Fensters wurden schließlich zwei Szenen dargestellt, in denen es um die Gesetzestexte und damit um die Grundlagen der weltlichen und der kirchlichen Herrschaft geht: im linken Bildfeld, dessen Ausführung heute Lorenzo Lotto zugeschrieben wird, werden die sogenannten Pandekten (Corpus iuris civilis) an Justinian überreicht. Das Bildfeld rechts des Fensters zeigt die Übergabe der sogenannten Dekretalen (Kirchengesetzbuch) an Gregor IX., der die Züge Julius II. trägt. Flankiert wird er von mehreren Klerikern, darunter zwei Kardinälen, die seine Nachfolger auf dem Stuhl Petri werden sollten: links Giovanni de’ Medici (Leo X.) und rechts Alessandro Farnese (Paul III.). Das Vorbild dieser Komposition war Melozzo da Forlìs Wandbild mit der Eröffnung der Vatikanischen Bibliothek mit Sixtus IV. und seinen Neffen >L. VII.6, ein Bezug, der wohl vom Auftraggeber vorgegeben wurde. Der formale Bezug auf das Familienporträt des Onkels, in dem Julius II. selbst als Kardinal dargestellt worden war, lässt die Andersartigkeit der Bildaussage deutlich hervortreten. Dokumentiert wird hier nicht die familiäre Geschlossenheit, sondern die Solidität und Kontinuität der päpstlichen Herrschaft, die sich auf die in der Lünette dargestellten Personifikationen der Tugenden des gerechten Herrschers gründet: Stärke, Klugheit und Mäßigung.

 

zu 5. Die Stanze des Heliodor