Die Stanzen: Lage, Funktion und Bildprogramm

Die Flucht der drei unter Julius II. ausgemalten Räume (stanza = Zimmer), für die sich schon im 16. Jahrhundert die heute noch gängigen Bezeichnungen eingebürgert haben, befindet sich im zweiten Stockwerk des päpstlichen Palastes, genau über der im Grundriss weitgehend identischen Suite, die Alexander VI. bewohnt hatte und die durch Pinturicchio ausgemalt worden war. Die Funktion der Stanzenunter Julius II. und Leo X. ist im Einzelnen nicht geklärt. Ihre großen auf den damals noch weitläufigen Belvederehof >L. IX.4 gerichteten Fenster machen sie heller als die Räumlichkeiten des ersten Stockwerks, das Julius II. im November 1507 aufgab, um seine Wohnung in das zweite Geschoss zu verlegen, ohne dass er jedoch die drei Räume schon in vollem Umfang benutzen konnte, da von 1509 bis 1517 ständig in einem von ihnen gearbeitet wurde. Vielleicht haben sich Julius II. und Leo X. daher auch weiterhin der Borgia-Gemächer bedient, die über eine Treppe gut erreichbar waren. Erst Clemens VII. hat 1524 das neue Appartement voll in Benutzung genommen und dies auch nur für drei Jahre, bevor es 1527 während des Sacco di Roma zur teilweisen Verwüstung der Zimmer durch die deutschen Landsknechte kam. In dieser Zeit dienten die Zimmer als Arbeits- und Repräsentationsräume. Aus den Tagebüchern der päpstlichen Zeremonienmeister geht hervor, dass der offizielle Besucher zunächst in die Paramentenkammern gelangte, die heute als Sala dei Palafrenieri (Saal der Reitknechte) und Sala Vecchia degli Svizzeri (Saal der Schweizergarde) bezeichnet werden. Über die von Bramante begonnene und von Raffael vollendete und ausgemalte Loggia betrat er dann den großen Saal, die spätere Sala di Costantino >L.XIII.9, der mit den drei anschließenden Stanzen in einer Flucht liegt. Als Schnittstelle kommuniziert der Saal mit dem privaten Wohnbereich des Pontifex, der sich auf den Cortile del Papagallo, also den inneren Hof, richtete. Hier befand sich das päpstliche Schlafzimmer (cubiculum), zu dem ein Vorzimmer (anticamera) gehörte, das direkt mit der Kapelle verbunden war, in welcher der Papst täglich Messe las. Wie diese Kapelle, die unter Nikolaus V. von Fra Angelico ausgemalt wurde >L.VII.1, waren auch die übrigen Räume des zweiten Geschosses schon vorher durch die Päpste genutzt worden und verfügten über einen hochrangigen malerischen Dekor. Der erste Raum, in den man von der Sala di Costantino aus eintritt, wird nach dem hier dargestellten Gemälde als Stanza d'Eliodoro bezeichnet. Der folgende mittlere Raum, der seit Vasari als Stanza della Si[e]gnatura bezeichnet wird, war zu dieser Zeit das Arbeitszimmer des Papstes, der hier u.a. die Gnadenakte über Urteile des höchsten Gerichts der Kurie unterschrieb. Als Speise- und Audienzzimmer diente der dritte und letzte Raum des Appartements, der an den damaligen Küchentrakt angrenzte, dessen schon früh geläufige Benennung als Stanza dell’Incendio sich jedoch nicht von der Funktion, sondern von Raffaels Fresko Borgobrand ableitet >L.XIII.6.

Raffael gelang es bereits 1509, d.h. etwa ein Jahr nach seiner Ankunft in Rom, die Leitung der Ausstattung des neuen päpstlichen Appartements zu übernehmen. Die gemalte Perspektive hinter den diskutierenden Philosophen habe – so Vasari – Julius II. so gut gefallen, dass er alles andere, was in diesem Zimmer bereits von anderen Meistern gemalt worden war, entfernen ließ. Raffael hat aber immerhin den von Piero della Francesca gemalten Zyklus von uomini famosi mit Persönlichkeiten des 14. und 15. Jahrhunderts, der sich in der späteren Stanze des Heliodor befand, vor seiner Zerstörung kopiert. Vasari erwähnt auch die anderen, vor Raffael in den Stanzen tätigen Maler, darunter neben Luca Signorelli und Sodoma auch den Mailänder Bramantino, der 1508 als „Magister Bartolomeus mediolano dictus Bramantino pictor“ für Malereien in den Stanzen bezahlt wurde. Ihm, einem Schüler Bramantes, wird heute die Ausführung des päpstlichen Wappens im Zentrum des Gewölbes der Stanza della Segnatura zugeschrieben sowie die Grotesken in den Zwischenräumen, die nach Vasari von Sodoma stammen. Raffael hat die bereits vorhandene Einteilung des Gewölbes durch das neue Bildprogramm zu einer kongenialen Grundlage für die Wandbilder umfunktioniert. Die Stanzen waren für Vasari die Fixpunkte und Mosaiksteine von Raffaels Entwicklung. Vor allem der große Wurf der Fresken in der Stanza della Segnatura wurde auslösend für eine völlig neue Orientierung der Historienmalerei.

Die vier Wandbilder sind den vier Fakultäten zugeordnet, in denen sich das Wissen der Welt kristallisierte und deren Personifikationen in den Tondi des Gewölbes dargestellt sind: Philosophie, Theologie, Poesie und Justitia. In den rechteckigen Bildern über den Gewölbezwickeln sind dagegen Szenen dargestellt, die exempla der vier Wissenschaften vorführen und auf die den Personifikationen beigegebenen lateinischen BeischriftenBezug nehmen. Zur Philosophie gehört die Astronomie, die den als Sphärenkugel gestalteten Kosmos in Drehung versetzt (oder auch nur betrachtet), zur Poesie die Schindung des Marsyas durch Apollo, zur Theologie der Sündenfall und zur Justitia das Urteil Salomons. Die Personifikationen der Philosophie, der Poesie, der Theologie und der Justitia in der Lünette und deren Beischriften, sowie die ihnen zugeordneten Szenen des Gewölbes (Betrachtung der Himmelskugel, Bestrafung des Marsyas, Sündenfall, Urteil Salomonis) liefern den Schlüssel zum Verständnis des Bildprogramms der Stanza della Segnatura: „In diesem zentralen Geschäfts- und Arbeitszimmer des Papstes entwerfen Raffaels Bilder am Gewölbe und an den Wänden das enzyklopädische Programm einer päpstlichen Herrschaft, die auf Gerechtigkeit und Wissen beruht. Die Fresken zeigen uomini famosi verschiedener, für einen Regenten notwendiger Erkenntnisbereiche. Der Papst versammelte um sich in Bildern die klügsten Gelehrten und inspiriertesten Geister aller Zeiten, gleichsam einen imaginären Beraterstab, dessen Weisheit er und seine Vertrauten hier bei Verhandlungen und Entscheidungen nachzueifern suchten. Die päpstliche Herrschaft, so verkündet die Ausmalung, gründe auf höchster Bildung.“

 

zu 2. Die "Schule von Athen"