Raffaels historische Bedeutung

Während der Ausmalung der Stanzen hatte sich Raffaelals souveräner Organisator profiliert, der es verstand, eine große Werkstatt so zu organisieren, dass es ihm möglich war, neben den zahlreichen Arbeiten im Vatikan noch andere bedeutende Aufträge zu übernehmen. Der 1514 gerade erst dreißigjährige Künstler überraschte durch die Vielseitigkeit seines Könnens auf vielen Gebieten, aber auch deshalb, weil sich mit der Professionalität und Effizienz des Praktikers eine schier unerschöpfliche Leichtigkeit der Erfindung verband, die außerdem mit einem einnehmenden Wesen und mit gewinnender persönlicher Anmut einherging, wie sich aus zahlreichen zeitgenössischen Zeugnissen ergibt. Vasari schreibt, dass Raffaels angenehme und liebenswürdige Umgangsformen auch auf alle wirkten, die mit ihm arbeiteten. Diese Nachricht hat Vasari vermutlich von den Schülern Raffaels erhalten, von denen er nicht wenige gekannt hat.

Vasari beschreibt Raffaels Werke in chronologischer Abfolge. Obwohl er damit dem Prinzip folgte, das er generell bei seinen Lebensbeschreibungen der Künstler einhielt, kommt seiner Berichterstattung in diesem Fall eine besondere Bedeutung zu. Sie fungiert nämlich als Beweiskette für die stilistische Entwicklung, die Vasari im Werk des Urbinaten konstatierte. Diese führte er auf Zäsuren und Einschnitte zurück, die er nicht nur mit dem Ortswechsel, sondern auch mit den Einflüssen erklärte, welche Raffael durch andere Meister, vor allem durch Florentiner, empfangen hatte. Auf den Einfluss Leonardos folgte der Einfluss Michelangelos, den Vasari an die Episode knüpft, dass Bramante, der den Schlüssel zur Sixtinischen Kapelle hatte, Raffael dorthin geführt habe, während Michelangelo nicht in Rom war, damit er „i modi di Michelagnolo comprendere potesse“. Dieser Eindruck sei der Grund dafür gewesen, dass Raffael das Fresko des Jesajas, das er für die Kirche S. Agostino zu malen hatte, nach dem Vorbild von Michelangelos Jesajas in der Sixtinischen Decke gemalt habe. Der motivische Zusammenhang ist offenkundig, besonders deutlich wird er an den beiden Engeln zu Seiten von Jesajas. Noch intensiver ist die Auseinandersetzung mit Michelangelo in den für Agostino Chigi ausgeführten Fresken auf dem Fassadenprospekt von dessen Kapelle in S. Maria della Pace. Die monumentalen Sibyllenund Propheten, die sich auf zwei Register verteilen, knüpfen thematisch und formal direkt an die Sixtinische Kapelle an >L.XII.2-5. Als nahezu wörtliches Zitat der Persischen Sibylle in der Sixtina gibt sich die außen rechts sitzende und im Profil gezeigte Seherin zu erkennen, während die Gesamtkonzeption an die Lünetten mit den Vorfahren Christi anknüpft. Entsprechend hoch ist Vasaris Schätzung des Werks, in dem Raffael der Darstellung des „Wahren“ am nächsten gekommen sei.

Raffaels Entwicklung verdeutlicht nach Vasaris Ansicht, dass es ein Künstler trotz ungünstiger Voraussetzungen durch Mühen, Studien und Fleiss („fatica, studio, e diligenza“) zu großem Ansehen und Können bringen könne, wenn er sich die richtigen Beispiele suche, die ihm helfen, seinen Stil zu verbessern. Raffael habe nicht wie ein Künstler, sondern wie ein Fürst gelebt und er habe gezeigt, wie die Maler freundlich und höflich miteinander umgehen könnten, obwohl dies ihrer Wesensart widerspreche. Eine solche Harmonie und Einheit habe es in keiner anderen Zeit gegeben. Durch seine hohen menschlichen Tugenden, seine Grazie, Schönheit, Bescheidenheit und seine vortrefflichen Sitten gehöre er nicht zu den normal Sterblichen, sondern zu den sterblichen Göttern, die den Nachgeborenen in dauerhafter Erinnerung bleiben. Die von Raffaels Kunst und Person ausgehende Faszination hielt nahezu vier Jahrhunderte an, bevor sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu verblassen begann, etwa genau zu der Zeit, als Michelangelo zum Inbegriff des in Konflikte verstrickten Genius und zum Symbol tragischer Größe wird.

 

zu Lektion XIV