Die Sala di Costantino
Raffaels letzter Beitrag zur Ausstattung des päpstlichen Appartements galt dem großen Saal, der seitdem als Sala di Costantinobezeichnet wird. Über dessen Funktion und genaue Entstehungsgeschichte herrschte lange Unklarheit. In den zeitgenössischen Quellen, vor allem in den Tagebüchern (1483–1506) des päpstlichen Zeremonienmeisters Paris de Grassis, wird der Saal, der mehrere Funktionen erfüllte, in Entsprechung zur gleichnamigen „sala dei Pontefici inferior“ im 1. Geschoss als „aula pontificum superior“ bezeichnet. Der Gelehrte Paolo Giovio, der ein Vertrauter der beiden Medici-Päpste war, hat den Saal in seiner um 1525 verfassten Raffael-Biographie als „amplius caenaculum“ bezeichnet. Später wurde er für halböffentliche Zeremonien benutzt, zu denen neben Vermählungen aus dem Verwandtschaftskreis des Papstes offizielle Audienzen und Vereidigungen gehörten. Der Anteil Raffaels an der 1519 begonnenen Ausmalung war lange Zeit umstritten. Das erhaltene Material an Zeichnungen belegt, dass er für den Teil der Ausstattung verantwortlich war, der bis 1521 von Giulio Romano und Giovanfrancesco Penni realisiert wurde und der, da er die Süd- und Ostwand betraf, mehr als die Hälfte des Saales ausmachte. Abweichend vom ursprünglich vorgesehenen Programm wurden in der zweiten Phase der Ausmalung von 1523 bis 1524 die Taufe Konstantins durch Silvester (Westwand) und die Schenkung Konstantins an Silvester (Nordwand) dargestellt, zwei Ereignisse, die es dem regierenden Papst Clemens VII. ermöglichten, sich selbst in den Rollenporträts seiner Namensvorgänger konterfeien zu lassen. Vasari zufolge sollten nach dem ursprünglichen Bildprogramm auf der Westwand die Vorführung der Gefangenen vor Konstantin und auf der Nordwand den Verzicht Konstantins auf ein heilendes Blutbad dargestellt werden. Wer als Urheber dieses Programms in Frage kommt, ist ebenso unklar wie dies für die Stanzen und die Loggien gilt. Neben Paolo Giovio, der seit 1513 zur Entourage des päpstlichen Hofes gehörte, Raffael persönlich kannte und außerdem an der römischen Universität lehrte, wird der Name des Dominikaners Silvester Prieirias genannt, der von 1515 bis 1523 das Amt des Magister Sacri Palatii bekleidete.
In der Sockelzone sind achtzehn nur z.T. erhaltene monochrome Darstellungen in Bronzeton ausgeführt, die den Konstantinzyklus vervollständigen und deren Entwurf auf Giulio Romano zurückgeht. Auch die Fensterlaibungen erhielten einen aufwendigen figürlichen Schmuck, der z.T. das Motiv der halbrunden Rampen des Belvederehofes zitiert. Quednau beurteilt die Konzeption dieses Saals als Raphaels „bedeutendsten Beitrag auf dem Gebiet der illusionistischen Wandmalerei“ [...] „Mit dem Gliederungssystem einer abgestuften Scheinarchitektur fand er eine geniale Lösung“ der Probleme, die dieser Raum mit seinen unregelmäßigen Maßen stellte. Für die Nischen mit den Bildnissen von acht Päpsten, die jedes Wandkompartiment einfassen, richtete er sich nach Michelangelos Propheten derSixtinischen Decke, aus der er einzelne Figuren übernahm. Auch andere „fremde“ Figurenerfindungen, deren Quellen Quednau nachweisen konnte, hat Raffael dem eigenen kompositionellen Entwurf so einverleibt, dass die Entlehnungen nicht auffallen. Der genialste Einfall war jedoch die Umdeutung der Wandbilder zu fingierten Teppichen. Raffael hat diesen Einfall auch im 1519 begonnenen Gewölbe der Loggia der Psychein der Villa des Agostino Chigi realisiert. In beiden Fällen könnte die Idee dazu durch die Teppichkartons für die Sixtinische Kapelle bewirkt worden sein. Das Repertoire der illusionistischen Wand- und Deckenbemalungen wurde so um ein sehr zukunftsreiches und vielfältig einsetzbares Motiv bereichert.
Das größte und figurenreichste Wandbild dieses Saals ist der Sieg Kaiser Konstantins über Maxentius an der Milvischen Brücke (Ponte Milvio). Jacob Burckhardt, der die Konstantinische Schlacht als „eines der größten Lebensresultate Raffaels“ bezeichnet hat, zog kleinformatige Schlachtenbilder des 17. Jahrhunderts heran, um das Besondere von Raffaels Komposition zu kennzeichnen: „Die Aufeinanderfolge und Auswahl der einzelnen Motive des Kampfes ist derart, dass keins das andere aufhebt; sie sind nicht nur räumlich wahrscheinlich, sondern auch beim größten Reichtum dramatisch deutlich.“Die Komposition basiert auf einem eigenhändigen Entwurf Raffaels. Dennoch hat das Ansehen des Werks bei der älteren Fachwelt darunter gelitten, dass seine Ausführung auf den lange Zeit als minderwertig angesehenen Giulio Romano zurückgeht. Für Heinrich Wölfflins „klassisches“ Raffaelbild war die so „barock“ anmutende Komposition eher ein Fremdkörper. Sie gehörte für ihn zu jenen Bildern, deren „betäubende Massenwirkungen“ er als Zeichen des Verfalls ansah. Infolge der modernen Wertschätzung für den arbeitsteiligen Werkprozess ist die Konstantinschlacht jedoch heute wieder voll als Erfindung Raffaels rehabilitiert.
Dass die Schlacht schon entschieden ist, erkennt man an der lichten Gestalt Konstantins, der eine goldene Rüstung trägt und dessen Schimmel über mehrere Besiegte triumphiert, während Maxentius gerade im Wasser des Tiber untergeht. Verteilt auf mehrere Gruppen wird Leonardos Anghiari-Schlachtbzw. der Kampf um die Standarte zitiert. Auch der rechte Bildteil, in dem der Kampf noch auf der Brücke tobt, richtet sich nach Leonardos Karton >L.XI.3. Das unentwirrbare Gewoge der Körper zieht sich über die ganze Bildbreite, aber nur im Mittelgrund verdichtet es sich zu einer Masse, in welcher der einzelne Kämpfer kaum mehr wahrnehmbar ist, während im Vordergrund markante Figuren den Stand der Schlacht verdeutlichen. Die Vielfalt an Bewegungen und Kampfsituationen, die hier erfunden wurden, reicht über alles hinaus, was bis dahin auf dem Gebiet der Schlachtdarstellung erprobt war. Auch spätere Schlachtenbilder haben diese Fülle und diese rasante Massenregie nicht übertroffen, vor allem nicht in einem so monumentalen Maßstab.
In der Sala di Costantino wird Raffael als souveräner Regisseur fassbar, der die Verteilung der Aufgaben so gut organisiert hatte, dass seine Gehilfen das Werk nach seinem Tod (1520) ohne Schaden vollenden konnten. Unternehmerische Effizienz und zukunftsweisendes organisatorisches und didaktisches Potential ermöglichten eine nachhaltige Schulbildung, die weit über seine Lebenszeit hinausreichte. Bis auf Penni gelang seinen engsten Werkstattmitgliedern nach dem Sacco di Roma (1527) eine eigene bedeutende Karriere in anderen italienischen Zentren. Giulio Romano ging nach Mantua und baute dort eine eigenständige Hofkunst auf, deren Vorbild die Raffael-Werkstatt war >L.XIV.5. Perino del Vaga (1501–1547) ließ sich für zehn Jahre (1527–1538) in Genua nieder, womit er der dortigen Malerei eine Initialzündung gab >L.XV.6. Polidoro da Caravaggio (1490/1500–1543) ging nach Neapel und Sizilien und wurde hier eine wichtige Vermittlerfigur für das Erbe Raffaels.
zu 10. Die Loggia der Psyche in der Villa des Agostino Chigi