Giorgione

Giovanni Bellini war der Lehrer herausragender Vertreter der nachfolgenden Malergeneration wie Cima da Conegliano, Vincenzo Catena und Bartolomeo Montagna. Laut Ludovico Dolcelernte auch Tizian bei ihm, bevor er zu Giorgione wechselte, von dem vermutet wird, dass er seinerseits von Giovanni Bellini ausgebildet worden war. Die Quellenlage zu Giorgione ist jedoch so dürftig, dass diese und andere Angaben über seinen Werdegang und seinen Status nicht verifizierbar sind. Vasari zufolge wurde er in Castelfranco geboren, wuchs aber in Venedig auf, wo er sich den Liebesfreuden und dem Lautenspiel hingab, während die Natur seine Lehrmeisterin in der Malerei gewesen sei. Sein frühestes dokumentiertes Werk ist ein Altarbild für die Georgskapelle des Doms von Castelfranco, das er entweder 1500 oder– nach älterer Ansicht – um 1504 im Auftrag eines privaten Stifters gemalt hat. Die durch Antonello und Giovanni Bellini eingeführte Form der Sacra Conversazione erfährt hier eine Konzentration und Verinnerlichung, die neue Maßstäbe für diesen Bildtypus setzte. Der geometrisch konstruierte Bildaufbau betont die Mittelachse mit einem blockhaften Thron, dessen einziger Schmuck ein Teppich ist, auf dem eine schmale Stoffbahn aus kostbarem Brokat liegt, die bis zur oberen Bildkante reicht und damit die himmlische Natur der Erscheinung andeutet. Marias gesenkter Blick richtet sich auf einen kastenartigen Sarkophag mit dem Stifterwappen, der auch im spirituellen Sinne als Fundament des Thronaufbaus und – vergleichbar mit skulptierten Grabmälern ‒ der zentrale Bezugspunkt der Bildkonzeption ist. Der atmosphärisch auf einen späten Nachmittag gestimmte Landschaftsprospekt, der die obere Hälfte der Komposition zu Seiten Mariens hinterfängt und der sich zum Bildrand öffnende Raum stellen eine für diesen Bildtypus ungewöhnliche Intimität her.

Wie schnell Giorgione zu einem Mythos wurde, belegt Baldassare Castiglione’s berühmtes Buch „Der Hofmann“ („Il Cortigiano“), das erstmals 1528 erschien. Unter den fünf „vortrefflichsten“ Malern Italiens wird Giorgione neben Leonardo, Mantegna, Raffael und Michelangelo aufgeführt. In den Augen Vasaris war sein brillanter Kolorismus dem Einfluss Leonardos geschuldet, von dem er mehrere Werke gesehen habe. Mit ihren „ungeheuer dunklen Farben, sehr verschattet und plastisch hervortretend gemalt“ haben sie ihm so gefallen, „daß er ihm ein Leben lang nacheiferte“. So sei er zu jener Meisterschaft in der „Wiedergabe des lebenden Fleisches“ gelangt, in der er alle anderen Künstler Italiens übertraf. Zwar hat sich Leonardo im Jahr 1500 für kurze Zeit in Venedig aufgehalten, genaue Nachrichten über diesen Aufenthalt liegen jedoch nicht vor. Der angebliche Einfluss Leonardos auf Giorgione folgt Vasaris „Ideologie“ der Überlegenheit der Toskaner über alle anderen Schulen. Die Folge der Stilisierung Giorgiones zum Schulhaupt (caposcuola), die sich in der Kunstliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts fortsetzte, war eine Überbewertung seiner Stellung innerhalb der venezianischen Malerei seiner Zeit, die auch noch die neuere kunsthistorische Forschung geprägt hat.

Eines von Giorgiones berühmtesten Bildern ist von Michiel als „kleine Landschaft auf Leinwand mit dem Sturm, der Zigeunerin und dem Soldaten“beschrieben worden und trägt seitdem den Titel La Tempesta. Die Attraktivität dieses als früheste selbständige Landschaft der italienischen Kunst geltenden Bildes beruht auf seinem Stimmungsgehalt, aber auch auf seiner Rätselhaftigkeit. Das namengebende Unwetter ist an dem Blitz ablesbar, der den Hintergrund erleuchtet, wo sich am Ufer eines ruhig fließenden Gewässers eine vom Blitz erleuchtete Stadtsilhouette erstreckt. Durch eine das Bildfeld teilende Brücke wird sie vom Mittel- und Vordergrund abgetrennt. Ein Gebäude mit Bogengliederung und zwei marmorne Säulenstümpfe beherrschen die linke Bildhälfte, an deren Rand ein junger Mann in auffällig bunter Kleidung und mit einem langen Stab posiert und ins Bild blickt. Die rechte Bildhälfte nimmt eine arkadisch anmutende Landschaft mit Felsen, Bäumen und Gesträuch ein, in deren Mitte eine nackte, ihr Kind säugende Frau auf einem grünen Rasen sitzt. Keiner der bisherigen Versuche zur mythologischen oder allegorischen Deutung der Figuren bzw. der Szene ist so schlüssig, dass alle Bildelemente erklärt werden. Unbestritten ist jedoch, dass Giorgione in dieser Idylle, die Landschaft und Figuren zu einer der italienischen Malerei bis dahin fremden Synthese bringt, nordische Einflüsse verarbeitet hat

Entscheidende Anregungen dazu bot Dürers Druckgrafik, etwa die Flucht nach Ägypten von 1504 aus dem Marienleben, von der sich auch Carpaccio anregen ließ. Dieses neue Verhältnis der Figurenstaffage zum Landschaftsraum betraf nicht nur religiöse Themen und beschränkte sich auch nicht auf die Druckgrafik. Ein Schlüsselwerk dieser neuen Bildauffassung, die das kleine Format bevorzugt, ist Albrecht Altdorfers Gemälde Satyrfamilie von 1507. Auch hier fungieren die Figuren als Stimmungsträger und lassen die Frage nach dem Sujet als sekundär erscheinen. Dieser Vergleich legt es nahe, einem anderen Ansatz zur Deutung der Figuren zu folgen. Die lebhafte Spannung zwischen Landschaft und Figuren hat Eisler dazu veranlasst, das Bild gemäß einer im 16. Jahrhundert gebräuchlichen Terminologie als „capriccio“ zu klassifizieren. Jüngst wurde auf die Ähnlichkeiten der beiden Figuren der Tempesta mit der in der deutschen Druckgrafik um 1500 beliebten und verbreiteten Thematik des „fahrenden Volkes“ hingewiesen, eine These, die durch Michiels Benennungen der beiden Figuren als soldato und zingara gestützt wird. Der Umstand, dass sich anstelle des Soldaten ursprünglich eine zweite nackte Frau vorgesehen warlädt ebenfalls dazu ein, sich von der forcierten Suche nach einer mythologischen Deutung zu verabschieden.

Dass es einen intensiven Austausch zwischen Venedig und dem Norden, d.h. auch mit den damals tätigen jungen Malern der sogenannten „Donauschule“ gab, zeigt sich an der Tatsache, dass Lukas Cranach der Ältere, der in seinen frühen Jahren eng mit der Donauschule assoziiert war, ein so dezidiert „venezianisches“ Thema wie die in einer Landschaft ruhende Nymphean einem Brunnen in die deutsche Malerei eingeführt hat. Als Ausgangspunkte für seine auch in späteren Jahren vielfach variierte Bilderfindung gelten neben den Darstellungen in der Hypnerotomachia Poliphili die Bilderfindungen des Venezianers Jacopo de’Barbari, der sich im Jahr 1500 nach Nürnberg begab, wo er für Kaiser Maximilian I. arbeitete, bevor er von 1503 bis 1505 in Wittenberg beim Kurfürsten von Sachsen als Hofmaler tätig war. Lucas Cranach der Ältere wurde dort 1505 sein Nachfolger und konnte sich so die venezianischen Themen seines Vorgängers aneignen, wie sein Holzschnitt Venus und Cupido von 1506 zeigt, der als erste Darstellung einer nackten Venus in der deutschen Kunst gilt.

 

zu 6. Albrecht Dürer und Jacopo de'Barbari