„Herbst der Renaissance“: Tintoretto und Veronese
Das Schaffen Jacopo Tintorettos (1518–1594) und Paolo Veroneses (1528–1588) reicht ca. zwei Jahrzehnte über den hier betrachteten Zeitraum hinaus, dessen obere Grenze durch den Tod Vasaris (1574) markiert wird. Da die beiden Maler jedoch ab 1548 bzw. 1555 als Protagonisten der auf Tizian folgenden jüngeren Generation die künstlerische Szene in Venedig maßgeblich bestimmen und zwar parallel zum Schaffen Tizians, bleibt abschließend kurz zu umreißen, in welcher Weise sich die venezianische Malerei durch sie verändert, wenn nicht sogar neu erfunden hat. Für beide war die Rivalität mit Tizian entscheidend, der noch auf der Höhe seines Ruhms stand, als sie ihre ersten Erfolge errangen. Lanzi bezeichnete Tintoretto als Schüler Tizians, obwohl nichts über seine Lehre und Jugendzeit bekannt ist. Schnell habe er sich aber von Tizian gelöst, um eine eigene neue Schule zu begründen, die das enthielt, was Tizian gefehlt habe. Das von ihm vertretene Prinzip hatte er angeblich in seiner Werkstatt angebracht: „Il disegno di Michelangelo e il colorito di Tiziano“. Heute gilt als sicher, dass Tintoretto einige Jahre in Rom verbrachte und sich dort intensiv mit den Werken Michelangelos und der Antike auseinandergesetzt haben muss. Obwohl er nach Florentiner Vorbild das Studium des Nackten praktizierte und Vasari ihm durchaus gewisse Vorzüge bescheinigte, sah er in ihm wegen seines extravaganten und kapriziösen Stils „il più terribile cervello che abbia avuto mai la pittura“. Seine Werke – Vasari schrieb diesen Passus nach seinem Besuch in Venedig 1566 – wichen von allem ab, was Maler bis dahin gemalt hätten und ließe die Malerei als lächerlich erscheinen. Er gebe Skizzen für vollendete Gemälde aus und seine Pinselstriche seien bloße Produkte des Zufalls und der Entfesselung und nicht durch Zeichnung und Urteil gelenkt. Der Dichter Pietro Aretino, dem Tintoretto seine ersten bedeutenden Aufträge verdankte, lobt seine prestezza (Schnelligkeit) und formulierte damit erstmalig ein Kriterium, das für die barocke Malerei fundamental werden sollte. Dank dieser Arbeitsweise, die auf einem neuen Verständnis von der Malerei als Medium großflächiger und figurenreicher Dekorationen beruhte, konnte Tintoretto, unterstützt von einer großen Werkstatt, in der Scuola di San Rocco und in S. Maria dell’Orto ein bis dahin quantitativ unvorstellbares Pensum bewältigen. Zehn Jahre nach dem Brand des Dogenpalastes (1577) fiel ihm nach einem öffentlichen Wettbewerb der Auftrag für das Gemälde der östlichen Stirnwand der Sala del Maggior Consiglio zu, der in zweijähriger Arbeit (1588–1590) auf der Grundlage eines Modello vor allem von seiner Werkstatt ausgeführt wurde. Auf einer Leinwand von 7 auf 22 Metern ist die Krönung Mariens dargestellt, der alle in offenen Halbkreisen organisierten himmlischen Hierarchien beiwohnen. Die Begeisterung der Zeitgenossen folgte später die totale Verdammung als „Ameisenhaufen“ und „Chaos“.
Tintorettos Konkurrent war Paolo Caliari, genannt Veronese, der 1553 nach Venedig gekommen war und der, vor allem im Kolorit, deutlich an die mittlere Schaffensperiode Tizians mit ihrem gesättigten, aber helltonigen Kolorit anknüpfte, von dem sich Tintoretto im Laufe seiner Entwicklung immer mehr zugunsten eines pointiert kontrastreichen Helldunkels entfernt hatte. In Veroneses pompösen und lebensvollen Gestalten allegorischen und mythologischen Inhalts, die eine kaum zu überbietende Vielfalt an kunstvoll verschränkten Posen und Perspektiven bieten, kündigen sich bereits barocke Üppigkeit und Theatralik an. Besonders deutlich zeigt sich dies an seiner Ausmalung der Villa Barbaro in Maser von 1561 . Seine Tätigkeit im Dogenpalast, die von 1553 bis 1583 reichte, kulminierte in dem großen Ovalbild mit dem Triumph der Venezia in der Sala del Maggior Consiglio.
Veronese, der Fresko und Leinwand mit gleicher Bravur einsetzte, und ebenso mühelos wie Tintoretto im großen Format arbeitete, profilierte sich mit einer neuen Variante des monumentalen Refektoriumsbildes. Das für Refektorien traditionelle Abendmahl wurde bei ihm zu einem rauschenden Gastmahl (convito) vor aufwändiger architektonischer Kulisse und mit einem reichen figürlichen Apparat, der weit über das thematisch bedingte Personal hinausgeht. Von den vier Bildern dieses Typs befinden sich heute die Hochzeit zu Kana (1562–1563) und das Gastmahl im Hause Simons (vor 1573)im Louvre. Den Höhepunkt dieser Bildgruppe bildet das als Abendmahl in Auftrag gegebene Gastmahl im Hause des Levi, für das der Maler 1573 vom Tribunal der Inquisition einer Befragung unterzogen wurde, deren Protokoll sich erhalten hat. Als man ihm vorwarf, dass er Figuren eingefügt habe, die in den Evangelien zum Abendmahl nicht erwähnt werden, rechtfertigte er sich mit den Freiheiten, die sich die Maler ebenso wie Dichter und Verrückte nehmen. Befragt, was das Bild seiner Meinung darstelle, antwortete er, zu sehen seien Christus und die zwölf Apostel, aber da das Bild so groß sei und Platz für viele Figuren biete, habe er sie gemalt „secondo le invenzioni“. Unter Berufung auf Michelangelos Jüngstes Gericht >L.XII.7 verteidigte er dieses Vorgehen, musste sich aber schließlich beugen und bekennen, dass er vieles nicht bedacht habe. Er löste die Auflagen der Richter zur Eliminierung der beanstandeten Figuren (Zwerge, Narren, betrunkene deutsche Landsknechte) auf geniale Weise, indem er (nach dem Lukasevangelium 5:27–32) das Bild umbenannte in Gastmahl im Hause des Zöllners Levi, wie eine entsprechende Inschrifttafel vermerkt. Die an Sansovinos Libreria Marciana >L.X.5 orientierte architektonische Szenerie deutet das Geschehen in eine theatralische Aktion um, deren Mitte zwar die Gruppe der am Abendmahlstisch um Christus versammelten Jünger ist. Das übrige bewegte Geschehen, dessen Protagonisten bunt und kostbar gekleidet sind, entwickelt jedoch eine erzählerische Eigendynamik, so dass die Aufmerksamkeit des Betrachters vom eigentlichen Thema abgelenkt wird. Dies stand im Widerspruch zu den 1563 durch das Tridentiner Konzil formulierten Grundsätzen für die Darstellung religiöser Stoffe. In Venedig wurden die neuen Regeln offensichtlich nicht so streng befolgt wie in Rom, wo die nackten Figuren in Michelangelos Jüngstes Gericht >L.XII.6 1564 übermalt werden mussten.
Der zunehmende Einfluss kirchlicher Institutionen auf die Malerei hatte einen „Herbst der Renaissance" zur Folge, von dem Rom und der Kirchenstaat stärker tangiert waren als Venedig. Die weitgehende Unabhängigkeit der Markusrepublik ermöglichte der Malerei und ihrem während des 16. Jahrhunderts gewachsenem Selbstverständnis als freier Kunst eine Kontinuität, die in den übrigen Kunstzentren Italiens nicht gegeben war. Dies war die Grundlage dafür, dass Venedig für die Protagonisten der neuen Malerei des Barock – Caravaggio, die Carracci und Rubens – zu einer wichtigen Inspirationsquelle werden konnte. Die malerische Tradition Venedigs lieferte – gleichrangig mit Rom und Florenz – die Bausteine für eine neue Blüte der Malerei im 17. Jahrhundert, einer Malerei, die sich explizit auf diese Traditionen berief und die dennoch andere Ziele verfolgte und die andere Adressaten und neue Prioritäten hatte.