Tizians Altartafeln

Neben dem facettenreichen profanen Repertoire, das Tizian während seines langen Lebens bedient und erweitert hat, ist es vor allem die Gattung des Altarbildes, in der er neben Raffael zum wichtigsten Maler der Renaissance wurde. Nach den tiefgreifenden Veränderungen, die sich in Venedig durch Giovanni Bellini auf diesem Gebiet ereignet hatten >L.XVI.4, bewirkt Tizian nach den malerisch und qualitativ zwar schon herausragenden, aber noch traditionellen Anfängen mit dem Hochaltarbild der Frari-Kirche einen epochalen Durchbruch. Dieses damals mit nahezu 7 m Höhe — nicht nur Venedigs — größtes Altarbild erregte ungeheures Aufsehen. Tizian, der daran von 1516 bis 1518 gearbeitet hat, stellt die Himmelfahrt Mariae (Assunta) als dramatischen und dynamischen Vorgang dar, der in einer bis dahin nicht vorstellbaren Weise Marias physische Präsenz akzentuiert. Zu den Anregungen, die Tizian hier verwertet hat, gehört die Himmelfahrt Mariae von Mantegna (1448–1457) in der Ovetari-Kapelle der Eremitani-Kirche in Padua. Besonders deutlich wird dieser Bezug am Kontrast zwischen den auf engem Raum zusammengedrängten Aposteln und der von einem gebauschten Mantel nach oben getragenen Gestalt Mariens. Ihr rotes Kleid bildet zusammen mit den roten Gewändern der beiden Apostel ein spitzwinkliges Dreieck, das den Aufwärtsschwung verstärkt. Von raumgreifender Bewegung erfüllt ist auch die Gruppe der Apostel, von denen die rotgekleidete Rückenfigur mit dem nach oben gestreckten Arm die Raumtiefe der irdischen Bühne erzeugt. Als eine der Inspirationsquellen gilt Raffaels Transfiguration, die seit 1517 in Arbeit war. Die Gestik Mariens wird auf den Christus der Disputa zurückgefüht. Tizian kann die Kenntnis von Raffaels Werken nur durch Vermittler erhalten haben, da bis zu seinem einzigen dokumentierten Romaufenthalt im Jahr 1545 noch 32 Jahre vergehen sollten. Neben Lorenzo Lotto und Dosso Dossi kommtSebastiano del Piombo als Vermittler in Frage >L.XIV.2. Tizian kannte ihn aus der Werkstatt Giorgiones und wurde von ihm bei seinem Rombesuch mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt vertraut gemacht. Das Neue der Bildstruktur besteht darin, dass sich der räumlich gesehene Halbkreis aus Wolken und Engeln nach oben öffnet, von wo sich in leichter Diagonale ein nahezu körperloser Gottvater Maria zuwendet, deren bewegte Gestalt eine weit über Raffaels Transfiguration hinausgehende Räumlichkeit und Dynamik generiert. Die Vehemenz, mit der das Ereignis der Himmelfahrt hier in Szene gesetzt wurde, wirkte so irritierend, dass die Aufnahme des Bildes, das neue Maßstäbe für die sakrale Historienmalerei setzte, nicht nur positiv war.

Es folgte bald ein Auftrag, mit dem Tizian einen weiteren Markstein setzte. 1519 erteilte ihm Pietro Jacopo Pesaroden Auftrag für ein Altarbild, das sich auf den Seesieg des Auftraggebers über die Türken bezieht, den er als Befehlshaber der Marine 1502 errungen hatte. Die dominante Rolle des hl. Petrus, der Namenpatron des Stifters war, hier aber auch als Gründer und Patron des römischen Papsttums fungiert, dessen Diener Pesaro als Bischof von Paphos auf Zypern war. Die Fahne mit den Wappen des Stifters und dem Papst Alexanders VI. spielt auf seinen 1502 errungenen Sieg an, der aber in Venedig nicht sonderlich zur Kenntnis genommen wurde. Durch den asymmetrischen und diagonalen Aufbau der Komposition wird die Person des Stifters im Angesicht der Muttergottes in eine vorteilhafte Position gerückt, die durch die beiden monumentalen Säulen des Hintergrundes und den Fahnenträger zusätzlich betont wird. Ihm gegenüber posiert sein Bruder Francesco Pesaro und weitere Familienmitglieder, die sich der Fürbitte des hl. Franziskus anvertrauen, der zusammen mit dem hl. Antonius rechts des Marienthrones steht und auf den sich der Blick des Jesuskindes richtet. Die Anwesenheit des Stifters und seiner Familie im Bild, die in Venedig nur in Votivbildern üblich war, sollte ein Sonderfall bleiben, der sich aus den besonderen Umständen der Stiftung erklärt. Die bis dahin in Venedig unübliche Typologie wird auf Dürers Rosenkranzfest zurückgeführt, an das auch ein weiteres, sehr auffälliges Motiv erinnert, nämlich die zwischen Maria und dem Jesuskind geteilte Aufmerksamkeit für die beiden Personengruppen. Wie bei Dürer wenden sich beide jeweils nur einer Gruppe zu. Aus der statischen und hierarchische Heiligenversammlung der älteren Altartafeln ist eine Historia im Sinne Albertis geworden, in der die Körperbewegung das „äußere Zeichen der inneren Bewegung der Seele“ist. Mit seiner asymmetrischen und diagonal aufgebauten Komposition steht das Gemälde am Beginn einer neuen Epoche der Altartafel, die bis zu Tiepolo reicht.

1520 vollendete Tizian eine für die Franziskanerkirche von Anconabestimmte Altartafel, die Maria mit dem hl. Franziskus und dem hl. Alvise als Fürbitter des Stifters Luigi Gozzi darstellt. Die Komposition geht direkt auf Raffaels Madonna di Foligno von 1511 zurück, die sich bis 1565 in S. Maria in Aracoeli in Rom befand. Auch hier stellt sich die Frage, auf welche Weise Tizian Kenntnis von diesem Bild erlangt hat. Da ein Romaufenthalt in dieser Zeit auszuschließen ist, muss – wie auch anderen Fällen– die Vermittlung über Skizzen und Informanten erfolgt sein. Der motivische Rückbezug auf Raffael macht deutlich, dass Tizian den Vergleich mit der römischen Malerei suchte und verdeutlicht dadurch die Unterschiede der Konzeption, sowohl ikonographisch wie formal. In beiden Bildern wird der Stifter von seinem Namenspatron dem Schutz der ihm erscheinenden Muttergottes empfohlen, die sich ihm zuneigt. Während Maria bei Raffael von einer kreisrunden Aureole umgeben ist, wodurch die Trennung der beiden Bildsphären betont wird, schwebt bei Tizian die Wolkenbank mit der himmlischen Erscheinung in unmittelbarer Nähe über dem Stifter. Die abendliche Stimmung und der einsame Campanile vor dem Wolkenhimmel suggerieren, dass sie aus der Tiefe des Raumes herangeschwebt ist. Auch die Asymmetrie der kompositorischen Elemente trägt dazu bei, dass die Trennung in zwei Zonen weitgehend aufgehoben wird.

Der nächste Auftrag für ein Altarbild erreichte Tizian 1528 und betraf das 1867 durch einen Brand zerstörte Altarbild für Santi Giovanni e Paolo mit dem Martyrium des hl. Petrus Martyr. Das nur durch Stiche und Kopien überlieferte Gemälde war eines der berühmtesten Werke Tizians. Zum ersten Mal wurde hier ein dramatisches und ausgesprochen blutiges Ereignis zum Thema eines Altarbildes gemacht, d.h. an die Stelle der repräsentativen Präsenz der Heiligen im Altarbild trat eine zum Mitgefühl und zur Anteilnahme auffordernde Historia, die der Baumgruppe eine für die Komposition entscheidende Rolle gab. Jacob Burckhardt, der das Gemälde noch an Ort und Stelle gesehen hat, beschreibt es wie folgt: „Das Momentane ist hier wahrhaft erschütternd, und doch nicht gräßlich; der letzte Ruf des Märtyrers, die Wehklage seines entsetzten Begleiters haben Raum, in die hohen luftigen Baumstämme emporzudringen, welche man sich mit einer Hand verdecken möge, um zu sehen, wie hochwichtig ein solcher freier Raum für wirklichkeitsgemäß aufgefaßte bewegte Szenen ist. Das Landschaftliche überhaupt ist hier zuerst mit einem vollendeten künstlerischen Bewußtsein behandelt, die Ferne in einem zornigen Licht, das den Moment wesentlich charakterisieren hilft.“

Auch zwei weitere Altarbilder Tizians haben dramatisch inszenierte und momenthaft zugespitzte Aktionen zum Thema. Das bekannteste von ihnen ist die Dornenkrönung des Louvre, die sich ursprünglich in einer Kapelle der Kirche S. Maria delle Grazie in Mailand befand. Der Vergleich mit der dreißig Jahre später entstandenen Version in München, die sich bei Tizians Tod in seinem Atelier befand, offenbart den Unterschied zwischen dem reifen Stil Tizians und seinem lange Zeit in seiner Bedeutung verkannten und qualitativ unterschätzten Spätstil. Die diagonal angelegte Folterszene, die sich in dem früheren Bild vor einer theatralisch postierten Tiberiusbüste abspielt, bleibt in den Hauptlinien unverändert, verliert aber durch das zerfasernde Kolorit, in dem sich die Körperkonturen auflösen, an Vehemenz und Dramatik. Die durch weitere Stangen am vorderen Bildrand verstärkte Vergitterung führt zu einem fast völligen Stillstand der Aktion. Das spektakulärste Altarbild, das Tizian gemalt hat, ist das Martyrium des hl. Laurentius für die Jesuitenkirche in Venedig, das zwischen 1548 und 1557 entstand. Im Bildaufbau greift Tizian wieder auf das Prinzip der gegenläufigen Diagonalen zurück. Die auf dem Rost liegende Gestalt des Heiligen führt in das Bild hinein. Diese Linie, die durch den ihn an den Armen haltenden Schergen weitergeführt wird, bricht sich an einem altarähnlichen Gebilde am linken Bildrand, auf dem eine Statue steht, die eine geflügelte Fortuna in ihren Händen hält. Sie wendet sich zu der vom Schein des Feuers erleuchteten Tempelfront, zu der eine Treppenanlage empor führt, die den Verlauf der zweiten Diagonale markiert und die durch zwei Fackeln ein spärliches Licht erhält. Der Tiefensog der Komposition führt dazu, dass die verschatteten Figuren auf der Treppe gegenüber den Akteuren des Vordergrundes enorm verkleinert sind. Laurentius reckt seinen Arm zu der sich auftuenden Himmelsöffnung empor, aus der ein überirdisches Licht hervorbricht, das auf die Textstelle in der Laurentiuslegende Bezug nimmt, in der der Heilige dem Kaiser antwortet: Meine Nacht ist ohne Dunkelheit, sie ist erhellt vom Licht des Himmels.

Die vor 1566 entstandene zweite Version zeigt die typischen Elemente seines Spätstils, nämlich den Stillstand der Handlung und die Aufhebung der Aktion. Das unruhig flackernde Licht des Feuers und der Fackeln, das sich auf den Körpern spiegelt, erhöht die Dramatik des Geschehens und nimmt darin Tendenzen der barocken Malerei vorweg. Ähnliches gilt auch für das Altarbild mit dem Pfingstwunder. Hier brechen die Strahlen des von der Geisttaube ausgehenden Lichts durch ein Thermenfenster so vehement in ein kellerartiges Gewölbe ein, dass die darin Versammelten nicht nur „erleuchtet“, sondern sie auch körperlich verstört.

Es ist unverkennbar, dass Tizian damit auf Tintoretto reagierte, der 1548 mit dem Wunder des hl. Markus der venezianischen Öffentlichkeit sein erstes großes Werk vorgestellt hatte. Das von Aretino bejubelte Gemälde war eine Sensation und begründete Tintorettos kometenhaften Aufstieg zum neuen offiziellen Maler der Serenissima. Tizian, der gerade in Augsburg weilte, als das Bild ausgestellt wurde, war verstimmt, als er von Aretinos Lob erfuhr. Er versuchte aber in den folgenden Jahren, sich auf den neuen bewegten Stil einzustellen, dem in Venedig die Zukunft gehörte. Als Impulsgeber für die neue Ausrichtung der venezianischen Malerei auf die übertriebenen Verkürzungen, gewagte Perspektiven und ein akzentuiertes Helldunkel gilt Giulio Romano in Mantua >L.XIV.5. Tizian, der Mantua seit 1536 kannte, als er die Serie der antiken Kaiserbildnisse für Federico Gonzaga geliefert hatte, blieb diese Grundlage von Tintorettos neuem Stil jedenfalls kaum verborgen, zumal er Giulio Romano persönlich kannte und ihn auch porträtiert hat.

 

zu 11. "Herbst der Renaissance": Tintoretto und Veronese