Venedig und die Renaissance
Venedig ist sich seiner Andersartigkeit gegenüber dem Festland und seiner besonderen Stellung als einem der wichtigsten Kunstzentren Italiens stets bewusst gewesen. Politisch bedingt >L.II.5, >VIII.9 waren die kulturellen Prioritäten hier deutlich anders gesetzt als in Florenz oder in Rom. Wirkten in der Toskana Humanismus, Antikenrezeption, künstlerische Innovationen und Künstlerwettbewerb seit dem 14. Jahrhundert als Motoren von Veränderungen, die sich unter dem Begriff „Renaissance“ subsummieren lassen, so gewannen diese Triebkräfte in Venedig erst relativ spät an Gewicht, vor allem aufgrund der zunehmenden ökonomischen und politischen Ausrichtung der Seerepublik auf das Hinterland (terraferma). Diese „Verspätung” ermöglichte jedoch innerhalb kürzester Zeit einen Epochensprung, der besonders für die Malerei , weitreichende künstlerische Neuerungen generierte. Etwa ab 1490 positionierte sich Venedig als Rivalin von Florenz, dem bis dahin unbestrittenen Zentrum künstlerischer Innovationen. Promotoren dieser Entwicklung waren Bruderschaften (scuole), denen wohlhabende Bürger angehörten, die ihre Versammlungsräume aufwändig ausstatten ließen. Unter dem Primat des Kolorits und der Naturnachahmung beschritt die profane Malerei in Venedig neue Wege, so beim Porträt, in der Landschafts- und Vedutenmalerei und bei mythologischen Themen. Vasari, der den Venezianern vorwarf, den disegno zu vernachlässigen, konzedierte ihnen lediglich in der von ihm als geringer wertig eingestuften Kategorie des Kolorits Exzellenz. Nach seiner Systematik gelangte die von den Bellini begonnene Entwicklung mit Giorgione (ca. 1477–1510) und Tizian (1477–1576) zu ihrem Höhepunkt. Vor den Werken der nächsten Generation der venezianischen Maler, vor allem Tintorettos (1518–1594) und Paolo Veroneses (1528–1588), die den Barock vorwegnehmen, hätten Vasaris Kriterien vollends versagt.