Heinrich Wölfflin
Knapp fünfzig Jahre nach Burckhardts Schriften zur italienischen Renaissance und zwei Jahre nach seinem Tod erschien ein weiteres epochemachendes Werk, in dessen Mittelpunkt die italienische Kunst der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts steht, also jene Zeitspanne, die als Hochrenaissance bezeichnet wird. Sein Verfasser war Heinrich Wölfflin (1864–1945), der trotz des Altersunterschiedes von 45 Jahren oft als Burckhardts Schüler gilt, da er bei ihm kurzzeitig studiert hatte, von dessen kulturhistorischem und typologischem Ansatz er sich aber deutlich distanzierte. Vielleicht war das einer der Gründe dafür, dass Wölfflin seinem ersten Hauptwerk, welches den großen italienischen Meistern der Hochrenaissance (Leonardo, Michelangelo, Raffael, Fra Bartolomeo, Andrea del Sarto) gewidmet ist, einen merkwürdig unverbindlichen Titel gab, nämlich „Die klassische Kunst“ von 1899. Nur dem Untertitel ist zu entnehmen, dass es die Renaissance behandelt. Am Thema der italienischen Hochrenaissance, bzw. an den Veränderungen, die sich an der Kunst des 16. Jahrhunderts gegenüber der des 15. Jahrhunderts ablesen lassen, hat Wölfflin seine Methode des vom Inhalt abstrahierenden Formvergleichs entwickelt, den man heute treffend als „Stilmetaphysik” bezeichnet. Gemeint ist damit die Eigengesetzlichkeit bestimmter formaler Prinzipien, die Wölfflin mit analytischer Präzision an einzelnen Kunstwerken herausarbeitete, die sich aufgrund ihrer Thematik und ihrer Form miteinander vergleichen lassen und an denen er die Gesetzmäßigkeit der für das Betrachterauge evidenten Veränderungen von Kunstwerken ablesen zu können glaubte.
Sein Misstrauen gegen die gängigen Periodisierungsbegriffe beleuchtet ein Zitat aus seinem Hauptwerk „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe": „Man bezeichnet die Folge der Perioden mit den Namen Frührenaissance — Hochrenaissance — Barock, Namen die wenig besagen und in ihrer Anwendung auf Süden und Norden notwendig zu Mißverständnissen führen müssen, die aber kaum mehr zu verdrängen sind. Unglücklicherweise spielt noch die Bildanalogie: Knospe — Blüte — Verfall eine irreführende Nebenrolle. Wenn zwischen 15. und 16. Jahrhundert in der Tat ein qualitativer (!) Unterschied besteht, indem das 15. Jahrhundert sich ganz allmählich erst die Wirkungseinsichten hat erarbeiten müssen, über die das 16. frei verfügt, so steht doch die klassische Kunst des Cinquecento und die barocke Kunst des Seicento dem Werte nach auf einer Linie."
Wie der Untertitel „Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst“ des Werks „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“ andeutet, ging es jedoch auch Wölfflin darum, die Entwicklung und Veränderung der Kunst vom 15. bis zum 17. Jahrhundert zu systematisieren und damit den seit Vasari immer wieder gebrauchten Topos von einem Wachstum der Kunst nach den Gesetzmäßigkeiten organischer Lebewesen zu überwinden. Seine Charakterisierungsbegriffe beanspruchen paradigmatische Geltung und erhalten ihre Anschaulichkeit durch die meistens sehr treffend ausgewählten Vergleiche, die das Gerüst des Systems sind, das Wölfflin entwickelt hat. An exemplarischen Reihen, hauptsächlich aus dem Gebiet der italienischen Kunst, arbeitete er das heraus, was er als Essenz der Veränderungen begriff, wobei der Bindestrich zwischen den jeweiligen Begriffspaaren stellvertretend für den eigentlichen Prozess der Veränderung steht. Die Gattungen Malerei und Zeichnung, Plastik und Architektur wurden anhand dieser Begriffspaare formaler Betrachtung von Wölfflin neu definiert.
Das erste Gegensatzpaar Linear — Malerisch ist demnach als Gleichung für die Veränderung vom linearen zum malerischen Stil zu verstehen, und dies gilt auch für die anderen vier Begriffspaare: Fläche — Tiefe, geschlossene — offene Form, Vielfalt — Einheit, Klarheit — Unklarheit. Es ist wichtig, sich zu verdeutlichen, dass die meisten Vergleiche auf Schwarzweiß-Reproduktionen basierten. Wölfflin hielt die Reproduktion durch das Foto für das ideale Medium der vergleichenden Betrachtung. Ihn ihm konnten auch die Architektur und die Skulptur zu Bildern domestiziert werden, so dass sich eine zwar fiktive, auf den ersten Blick aber frappierende Parallelität der Entwicklung in den einzelnen Gattungen ergibt. Zur Herausarbeitung und Demonstration seiner Begriffspaare stützte sich Wölfflin auf die Werke, die seit Burckhardt zum Kanon der Renaissance gehörten. Leonardo da Vincis Abendmahl >L.VI.10 ist für ihn das „erste große Beispiel des klassischen Flächenstils“, Michelangelos Medici-Grabmäler >L.XII.6 charakterisiert er als „scheibenhaft“, und die Fassaden der Villa Farnesina und der Cancelleria sind für ihn „Beispiele des klassischen Flächenstils“. In Tizians Assunta der Frarikirche >L.XVI.10 sieht er „das klassische System Tizians“ mit der „Hauptfigur als Vertikale“. An Tintorettos Tempelgang Mariae in S. Maria dell’Orto in Venedig erläutert Wölfflin das Prinzip der „Unklarheit“ wie folgt: „Die von räumlicher Energie strotzende Komposition ist ein gutes Beispiel eines mit wesentlich plastischen Mitteln arbeitenden Tiefenstils, daneben aber ebenso typisch für das Auseinanderlegen von Bildakzent und Sachakzent.“ Bei der Erläuterung des Begriffspaares Klarheit — Unklarheit verzichtet Wölfflin jedoch auf den Vergleich mit Tizians Darstellung des Tempelgangs Mariae, ein Werk, das eigentlich ein paradigmatischer Beleg für seine Thesen der Stilentwicklung durch Formveränderung wäre. Er scheute sich offensichtlich davor, den stilistischen Gegensatz zwischen Tizian (1490–1576) und Tintoretto (1518–1594) zur Kenntnis zu nehmen, deren Lebenszeiten sich zu mehr als zwei Dritteln überlappen >L.XVI.11. Dies dürfte auch dann liegen, dass der Stilbegriff Manierismus, der ihn aus diesem Dilemma gerettet hätte, 1915 noch nicht zur Verfügung stand.
Die Unterschiede der Epochen der Renaissance und des Barock erscheinen in dieser Kontrastierung so festgefügt und monolith, dass sie für Wölfflin zu einer nahezu individuellen Autorität wurden („Der Barock will nicht“). An diesem Punkt zeigen sich die Grenzen der formalen Kategorien Wölfflins. Sie waren nicht dazu geeignet, die unterschiedlichen Entwicklungen und Facetten bzw. die regionalen Brechungen oder gar die kulturellen und soziologischen Bedingungen für künstlerische Stile zu erfassen. Dies ist ihm auch von seinen Kritikern – vor allem von Panofsky – vorgeworfen worden. Panofsky erkannte die Gültigkeit formaler Grundbegriffe durchaus an, aber nur als Kategorien, mit denen „die sinnlichen Eigenschaften der Kunstwerke, nicht aber ihre Stilkriterien“ bezeichnet werden können. Dennoch ist Wölfflins Beitrag zur Sicht auf die Renaissance fundamental. Abgesehen davon, dass seine Begriffe einen unmittelbaren Zugang zur Charakterisierung von Hauptwerken dieser Epoche ermöglichen, ist er der erste Kunstwissenschaftler gewesen, der dank seines Interesses an der Psychologie des Betrachtens die Differenz zwischen der Wahrnehmung und dem künstlerischen Artefakt thematisiert hat. Die Korrelation zwischen der Regie des Künstlers, die den Blick des Betrachters konditioniert und lenkt, hat Wölfflin teilweise sehr genau seziert. Allerdings waren es vor allem die Kunstwerke des Barock, die von dieser Analyse profitierten. Die Erkenntnis, dass auch die angebliche Objektivität der Kunst der Renaissance ein relativierbares Phänomen ist, das auf bestimmten Errungenschaften basiert, war der Epoche Wölfflins und Panofskys noch nicht bewusst.
Wie Panofsky als erster erkannt hat, lag die Schwäche der „Systematik“ Wölfflins in der Tendenz zur Polarisierung, die eine Folge des Vergleichs der Reproduktionen war. Dies führte etwa dazu, dass Leonardo und Dürer im Wettstreit um die Erreichung des „Absolut-Klaren“ zu stehen scheinen, eine fiktive Konfrontation, die auf fast naive Weise gelöst wird, wenn es heisst: „Der Deutsche steigert die Forderung nicht so hoch wie der Italiener.” Wölfflins Interesse an den Unterschieden zwischen der Kunst des Nordens und des Südens, das schon in den "Grundbegriffen" ein Leitmotiv ist, mündete 1931 in sein Spätwerk „Italien und das deutsche Formgefühl“, das methodisch in eine Sackgasse führte. Hier stellte er seine Gegensatzpaare in den Dienst der Charakterisierung der Unterschiede zwischen der Kunst des Nordens und des Südens: „geschlossen — Einheit — Klarheit“ galten nun für Italien, „offen — Vielfalt — Unklarheit“ dagegen für den Norden. Wölfflin folgte damit einer Tendenz, die für das kunsthistorische Schrifttum in Deutschland während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine fatale Rolle gespielt hat, auch wenn sie sich gelegentlich mit einer subtilen Vertiefung in die formalen Eigenheiten der Renaissance vermischten, wie dies etwa bei Theodor Hetzers Studien zur venezianischen Malerei der Fall ist. Wie sehr sich die nationalistische Kunstgeschichte der NS-Zeit an die Fersen der formalanalytischen Methode Wölfflins geheftet hat, zeigen Texte wie der von Johannes von Allesch, in dem es um die Unterschiede des in der Kunst nach damaliger Überzeugung manifesten Volkscharakters ging. Charakteristisch für die methodische Sackgasse der „völkisch” interpretierten Kunstgeschichte ist auch die folgende Aussage: „Die Entwicklung eines jeden Stils vollzieht sich unbewußt, aus dem Lebensgefühl und der Weltanschauung eines Volkes und einer Zeit.“
In zeitlicher Parallelität zu Wölfflins Methode hatte die ikonologische Forschungsrichtung, die von Aby Warburg ausgegangen war, bereits differenzierte Instrumentarien der Tiefenerforschung der Kultur und Geschichte der Renaissance entwickelt. Warburgs interdisziplinäre Forschungen bezogen Philosophie, Literatur, Geschichte, Theater und Festkultur ein, um das Phänomen Renaissance besser zu verstehen und zu charakterisieren. Er hatte ein „diagnostisches Verständnis vom Kunstwerk“, wie Martin Warnke das ausgedrückt hat, d.h. Bilder waren für ihn „Ausdrucksträger eines sozialen Gedächtnisses“. Warburg knüpfte an Burckhardt an, als er in seiner Dissertation (1893) über Botticellis Gemälde Geburt der Venus und Primavera die Abhängigkeit der Themen dieser Bilder von Dichtungen des mediceischen Hofdichters Angelo Poliziano nachwies, die auf Homer basieren. Andererseits stellte er die Verbindung zwischen der künstlerischen Gestaltung von Bewegung durch Botticelli mit Passagen aus Albertis Traktat „De Pictura” über die Malerei von 1435 heraus, in denen Motive und Kunstgriffe beschrieben werden, die der Malerei die Fiktion von Bewegung ermöglichen. Das „bewegte Beiwerk“ ist für Warburg wesentlicher Faktor der direkten Entlehnung von der Antike. Für Botticellis Gemälde Primavera weist er auf Alberti als mögliche Quelle für das Thema der Grazien hin, während er für die rechte Gruppe des Bildes mit Zephyr und Flora Ovids „Fasti” als inhaltliche Quelle ausmachte, und die formale Gestaltung auf Ovids Schilderung der Verfolgung Daphnes durch Apollo bzw. auf dessen Adaption durch Polizian zurückführte. In Polizianos Dichtung „Orfeo” und in anderen für die Bühne geschaffenen Texten des Quattrocento, die „erotische Verfolgungsszenen“ thematisierten, erkannte Warburg schließlich die Verbindung zur Festkultur der Renaissance, womit er die Brücke zu Burckhardt schlug, den er in diesem Zusammenhang ausdrücklich zitiert: „Man erkennt hier, was Jacob Burckhardt, auch hier unfehlbar im Gesamturteil vorgreifend gesagt hat: „Das italienische Festwesen in seiner höhern Cultur ist ein wahrer Uebergang aus dem Leben in die Kunst.“