Der Borgherini-Zyklus und die "storiette piccole" von Piero di Cosimo
Zwei der Künstler, die in Santissima Annunziata gearbeitet hatten, waren 1515 in eine Gemeinschaftsarbeit involviert, die zu den faszinierendsten malerischen Ensembles dieser Jahre gehört. Es handelt sich um die malerische Ausstattung des ehelichen Schlafzimmers im Familienpalast der Borgherini (heute Rosselli del Turco) im Borgo Santi Apostoli. Den Anlaß für die opulente Ausstattung mit Gemälden, die in die reich ornamentierte hölzerne Wandverkleidung eingelassen waren, bot die Hochzeit zwischen Pierfrancesco Borgherini und Margherita Acciaiuoli im November 1515. Der auch in Rom tätige Bankier Borgherini (1480–1558) – er betreute dort u. a. Michelangelo und ließ von Sebastiano del Piombo eine Kapelle ausmalen >ABB L.XIV.2 − war ein treuer Anhänger der Medici. Die von Andrea del Sarto, Pontormo, Granacci und Francesco Ubertini, genannt Il Bacchiacca ausgeführten vierzehn Gemälde unterschiedlicher Formate stellen Szenen aus der Geschichte Josephsdar, die als christliches exemplum virtutis in Florenz ein beliebtes Bildthema war. Das Zimmer war wegen seiner Ausstattung so berühmt, dass der politische Gegner während des republikanischen Interregnums (1529) versuchte, der Ehefrau des im Exil lebenden Pierfrancesco die Bilder zu entreißen, um sie dem französischen König zu schenken. Die ursprüngliche Anbringung der Gemälde läßt sich nicht mehr mit Sicherheit rekonstruieren, da es keine Raumbeschreibungen aus der Zeit vor der Zerstreuung des Dekors (ab 1584) gibt. Einige Details lassen sich jedoch aus Vasaris Biografien der beteiligten Maler und Künstler entnehmen. Entsprechend der Rekonstruktion der Anordnung durch Brahamwaren die Bettpfosten und die Frontseiten der beiden Truhen in die malerische Dekoration einbezogen.
Die Gemälde der vier beteiligten Maler sind sehr unterschiedlich. Während Granaccials der älteste von ihnen eine ruhige und symmetrische Komposition mit klassischen Requisiten wählte, in der er die sich gemessen bewegenden Figurengruppen so verteilt, dass ein perspektivisches Raumkontinuum entsteht, gingen Andrea del Sarto und Pontormo neue Wege. Andrea del Sarto knüpfte in der Darstellung der Kindheit Josephs an Ghibertis Porta del Paradiso an >L.VII.6, indem er die verschiedenen Szenen in einer pittoresken hügeligen Landschaft verteilte, so dass er mehrere Episoden in ihr unterbringen konnte. Pontormo verwandelte dagegen das traditionelle Prinzip der sukzessiven und mehrteiligen Erzählung, das als Charakteristikum der Florentiner Frührenaissance gelten kann >L.VII.6, in ein effektvolles Spektakel. In seiner Darstellung der Joseph in Ägypten werden die in grellen Farben gehaltenen Figuren einer extremen Skalierung unterworfen, die zwar durch die phantasievollen architektonischen Requisiten und die bizarren landschaftlichen Formationen aufgefangen sind, jedoch schroff und unvermittelt nebeneinander stehen. Die Gewandbildungen und Physiognomien, die mit antiken Motiven in Architektur und Figurenrepertoire kombiniert sind, lassen sich teilweise direkt auf die deutsche und niederländische Druckgraphik zurückführen. Mit dieser phantasievollen Mischung unterschiedlicher Elemente distanziert sich Pontormo deutlich vom monumentalen und erhabenen Stil der Hochrenaissance, der gleichzeitig in Rom seinen Höhepunkt erreichte. Diese Divergenzen in der stilistischen Orientierung in Florenz und Rom mögen sich z. T. daraus erklären, dass für Kunstwerke im privaten Milieu andere Kriterien galten. Gleichwohl manifestiert sich in der Ausstattung des Borgherini-Zimmers mit kleinformatigen und kleinteiligen Historienbildern eine neue künstlerische Sprache. Als deren Mitbegründer ist Piero di Cosimo (1454–1521) anzusehen, der Andrea del Sartos und auch Pontormos erster Lehrer war und dem Vasari den Stempel eines Sonderlings verpasst hat. Wenngleich Piero di Cosimo mehr als eine Generation älter war als die Maler des „primo manierismo fiorentino“, um die es hier geht, gehört er zu ihren Wegbereitern. Formal in der narrativen Tradition der Predellenbilder stehend, erfüllen Piero di Cosimos erzählfreudige und originelle Kompositionen – Vasari nennt sie „storiette piccole“ − die nicht nur negativ konnotierten Kriterien, die er für Außenseiter parat hatte. Er habe sich in seinem Atelier mit seinen bizarrerie und seinen unausgegorenen philosophischen Ideen von der Welt abgeschlossen und dort seinem „spirito molto stratto e vario di fantasia“ Raum gegeben.
Piero di Cosimo, der niemals für die Medici gearbeitet hat, bediente eine vorwiegend „republikanische“ Patronage, darunter die Strozzi, Capponi, Vespucci und Del Pugliese. 1510 stattete er für die Strozzi ein Zimmer mit Malereien aus, zu denen wahrscheinlich das von Vasari gelobte Gemälde der Befreiung der Andromeda durch Perseus gehörte, eines der phantasievollsten und unkonventionellsten Gemälde, die in dieser Zeit in Florenz entstanden sind. Es zeigt nicht nur, dass Piero di Cosimo die Technik der Ölmalerei vollendet beherrschte, sondern auch dass hier die künstlerischen Voraussetzungen für die einige Jahre später entstandene Ausmalung der Camera Borgherini durch Pontormo und Andrea del Sarto liegen. Seine skurrile, in mancher Hinsicht an Leonardo erinnernde Phantasie und das Interesse an ungewöhnlichen Bildungen der Natur schlug sich neben den Dekorationen für Karnevalswägen, von denen Vasari den Carro della morte ausführlich beschreibt, vor allem in seinen kleinformatigen Gemälden nieder, die sich durch ungewöhnliche und gesuchte Themen auszeichnen, darunter der dreiteilige Zyklus mit Szenen aus der Urgeschichte der Menschheit, der wohl – vergleichbar mit der camera Borgherini – in die Wandverkleidung eines privaten Wohngemachs eingefügt war. Auch die querformatigen Darstellungen der Geschichten des Vulkan, des Prometheus und des Silen dürften in einen ähnlichen Kontext gehört haben. Die Verarbeitung des humanistischen Bildungsgutes zu reizvollen, aber auch rätselhaft und märchenhaft wirkenden Kompositionen für eine private Klientel war ein neues Ferment in der florentinischen Malerei. Der als Begründer der deutschen Kunstgeschichte geltende Carl Friedrich von Rumohr schloss Piero di Cosimo allerdings aus der florentinischen Schule aus und verwies mit einer gewissen Berechtigung auf die stilistischen Verbindungen zu Venedig und zur Lombardei, die sich vor allem im Kolorit und in der Themenwahl zeigen.