Pontormo
Jacopo Carucci (1494–1557), der nach seinem Geburtsort Il Pontormo genannt wurde, lebte bereits 1503 in Florenz, wo er laut Vasari bei Leonardo da Vinci und Piero di Cosimo gelernt haben soll, bevor er in ein schülerartiges Verhältnis zu Andrea del Sarto trat. Er gilt als der Hauptvertreter des „primo manierismo fiorentino“. Sein Oeuvre ist, abgesehen von seiner brillanten Beherrschung der Zeichnung und seiner kombinatorischen Leichtigkeit, von einer Vielseitigkeit und Originalität geprägt, die ihm aus heutiger Sicht einen Platz unter den ganz großen Malern und Zeichnern des 16. Jahrhunderts sichert. Ein Blick in die ältere Kunstliteratur zeigt, dass dies nicht immer so gesehen wurde. Vasari, der Pontormo persönlich kannte, betont seine Melancholie und seine Zurückgezogenheit, die auch durch ein in den letzten Lebensjahren geführtes Tagebuch belegt wird. Er warf Pontormo nicht vor, dass er Albrecht Dürers Erfindungen nachgeahmt habe — das täten schließlich viele Künstler — wohl aber, dass er die naive deutsche Manier (maniera stietta tedesca) in den Gewändern, im Ausdruck der Köpfe und in den Haltungen imitiert hätte, während er besser daran getan hätte, sich nur der Erfindungen zu bedienen, da er doch die Grazie und Schönheit der maniera moderna beherrscht habe. Vasari kritisiert auch, dass er die Extravaganzen suchte und sich immer neue Effekte einfallen ließ, keine Gehilfen hinzuzog und stattdessen seine Schüler von Anfang an alles machen ließ. Die von Vasari unterstellte Abwendung Pontormos von der etablierten Organisation der Arbeit stand nicht nur in Gegensatz zur Florentiner Tradition, sondern auch zu Vasaris eigener Praxis >L.XV.9. Die Verurteilung Pontormos war verhängnisvoll, leistete sie doch der späteren Missachtung und Zerstörung seiner Werke Vorschub, wovon vor allem seine Ausmalung des Chores von S. Lorenzo mit Szenen aus dem Alten und Neuen Testament betroffen war. Neuere Dokumentenfunde widerlegen die Aussagen Vasaris über die mangelhafte Organisation seines Werkstattbetriebs. Pontormos wichtigster Schüler war Agnolo di Cosimo di Mariano Tori genannt il Bronzino (1503–1572) der seinerseits Lehrer von Alessandro Allori 1535–1607) wurde >L.XV.7. Auf diese Weise wurde eine fast hundert Jahre währende Traditionskette begründet, die Vasaris Konzept von der Kontinuität der Werkstätten durchaus entspricht.
Nach seinem Debüt im Chiostrino de’voti und den drei Gemälden für die Camera Borgherini wurde Pontormo ein gefragter Maler von Altarbildern, Porträts, Fresken und Wappen. Anlässlich des Einzugs Papst Leos X. in Florenz fiel ihm die Ausführung des malerischer Dekors mehrerer Prozessionswägen zu. Sein frühester großer Auftrag als Wandmaler, den er zusammen mit Franciabigio und Andrea del Sarto erhielt, betraf die durch Paolo Giovio konzipierte Ausmalung des großen Saals der Medici-Villa in Poggio a Caiano >L.IV.10, ein Unternehmen, das im Florenz dieser Jahre nicht seinesgleichen hatte. Während Franciabigio und Andrea del Sarto auf die Wände je eine Szene aus der antiken römischen Geschichte malten, die auf die Geschicke der Medici anspielen, fiel Pontormo die Bemalung einer Lünette zu, die Vasari als Vertumnus und Pomona gedeutet hat, die jedoch Ceres und Bacchus-Liber darstellen, die von den Personifikationen der Vier Jahreszeiten begleitet sind. Auf provokative und geistreiche Weise zitiert und adaptiert Pontormo in der Gestalt des lasziv gelagerten Bacchus-Liber Michelangelos ProphetJonasaus der Sixtinischen Decke >ABB L.XII.5. Nach dem Tod Leo’s X. (1521) kam die Ausmalung zum Erliegen und wurde erst später durch Alessandro Allori vollendet. Wegen einer Pestepidemie zog sich Pontormo, der laut Vasari ein Eigenbrötler und Einzelgänger war, von 1522 bis 1525 in die Kartause von Florenz zurück, wo er im Kreuzgang einen aus fünf großen Lünetten bestehenden Zyklus der Passion Christi begann, an dem er bis 1527 gearbeitet hat. Die wie vergittert wirkenden Szenen, die eine unübersichtliche Fülle von Figuren aufweisen, richten sich motivisch nach Vorbildern Dürers aus der Kleinen Passion von 1511. Von dem ursprünglich sehr lebhaften und kontrastreichen Kolorit der Fresken sind heute nur noch Spuren vorhanden. Um sich eine Vorstellung von der ungewöhnlichen Farbenwahl zu machen, die Pontormos Werke dieser Jahre kennzeichnet, eignet sich vor allem sein berühmtes Altarbild mit der Grabtragung Christi, das 1525 von Ludovico di Gino Capponi in Auftrag gegeben wurde und 1528 vollendet wurde. Der Standort ist eine Kapelle, die hundert Jahre früher (1419–1423) von Brunelleschi gestaltet worden war. Von der ursprünglichen malerischen Ausstattung der Kapelle, die der Pietà geweiht wurde, sind auf der rechten Kapellenwand noch das Fresko der Verkündigung Mariae und die Tondi mit den Vier Evangelisten erhalten, von denen eines von Pontormos Schüler Agnolo Bronzino stammt.
Die Vollendung des Bildes fiel in die Zeit der zweiten Florentiner Republik, als die Familie Capponi politisch eine prominente Rolle spielte. Das lange Zeit umstrittene Thema des Bildes, das Elemente der Grablegung und der Grabtragung enthält, ist entsprechend dem Patrozinium der Kapelle als Pietà zu deuten. Für die Position der beiden Hauptfiguren war das Vorbild der Pietà von Michelangeloin St. Peter (1498–1499) prägend, während die grellen und ausgebleichten Sekundärfarben, die die Rundungen der Körper besonders stark hervortreten lassen, den Einfluß der Sixtinischen Decke >L.XII.2 erkennen lassen. Das Thema der insgesamt neun Begleitfiguren erinnert dagegen an Raffaels Grabtragungvon 1507 >ABB L.XI.8, während der in die Höhe gestaffelte Aufbau Reminiszenzen von Botticellis Beweinung Christi von 1495 zeigt, die sich ursprünglich in der Florentiner Kirche S. Maria Maggiore befand. Die Rückverweise auf Werke, die in Florenz gut bekannt waren, beleuchten das eklektische Verfahren, das Pontormo anwendete, das er aber in den Dienst einer individuellen Stilsprache stellte, deren Merkmale die fast ornamental zu nennende Deformation der Körper und die Stilisierung der Gesichter sind.
Zu den aufregendsten Werken, die Pontormo geschaffen hat, gehört die Altartafel mit der Heimsuchung Mariae, ein Thema, das er schon im Hof der Santissima Annunziata dargestellt hatte, damals allerdings noch ganz im Banne Raffaels stehend. Zwanzig Jahre später machte er aus dem eigentlich friedlichen und hoffnungsvollen Thema der Begegnung zwischen der schwangeren Elisabeth und der schwangeren Maria eine irreale Begegnung von vier riesenhaften und unheimlichen Frauen, die auf einer nicht weniger irrealen Bühne stattfindet, die von extrem in die Tiefe fluchtenden architektonischen Kulissen gerahmt wird. Als wichtigste Quelle für die ungewöhnliche Bilderfindung gilt Dürers Kupferstich Vier nackte Frauen von 1497; von hier lassen sich vor allem die Gruppierung der vier Figuren und die räumliche Disposition ableiten. Die Prägung Pontormos durch Dürers Druckgraphik hatte den Beigeschmack der Tedescheria, der gegenüber nicht nur von Seiten Vasaris grundsätzliche Aversionen bestanden.