Sammlung alternativer Kunst aus Osteuropa von Klaus Groh

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Die Kunstsammlung des deutschen Kunsthistorikers, Kunstpädagogen und Künstlers Klaus Groh (geb. 1936), die im Jahre 2004 von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen erworben wurde, stellt mit ihren etwa 10.000 Einzelobjekten, eine einmalige Quelle für die Erforschung der unabhängigen Kunstszenen und Künstlernetzwerke der späten 1960er bis 1980er Jahre dar. Die Sammlung enthält Künstlerbücher, Buch- und Kunstobjekte, Mail Art, Tonbänder, Fotodokumentationen, eine bunten Vielfalt von Ephemera sowie inhaltlich reiche Korrespondenzen mit Künstler*innen, die sich außerhalb der offiziellen, dem sozialistischen Realismus verschriebenen Kulturszene Ostmittel- und Osteuropas entwickelten.

Das Ausmaß und der breitgefächerte, gattungs- und länderübergreifende Inhalt der Sammlung sind dabei nicht überraschend, erwägt man die emsige Tätigkeit von Klaus Groh, die ihn zu einer der zentralen, weltweit bekannten Figuren und Animateure der Mail Art-Szene machte. Mit der Gründung der International Artists‘ Cooperation (I.A.C.) im Jahre 1969 gelang es Groh, eine Plattform zu erschaffen, die einen regen Ideenaustausch unter gleichgesinnten Künstlern ermöglichte. Die I.A.C. veröffentlichte dabei in ihren Informationsbulletins Adresslisten und Mitteilungen der in der Mail Art-Szene aktiven Künstler und Kunstinstitutionen und verbreite diese schließlich unter ihren Mitgliedern in 39 Ländern. Ab 1972 erweiterte sie zudem ihre Publikationstätigkeit durch eine Reihe von kleinformatigen, xerokopierten Booklets, die die Arbeit eigener Mitglieder vorstellten. Solch ein Kontaktnetzwerk war freilich von immenser Bedeutung für Künstler*innen aus Ländern, in denen die persönliche und künstlerische Freiheit durch die Vorschriften und Einschränkungen des herrschenden Regimes bestimmt wurden.

Schon im Jahre 1972 setzte Groh mit seiner beispiellosen Publikation Aktuelle Kunst in Osteuropa den nächsten Meilenstein für osteuropäische Künstler*innen und bestätigte sich somit in seiner Rolle eines Kultur- und Ideenvermittlers. Obwohl die Publikation relativ schnell vom Markt zurückgezogen wurde, leitete sie dennoch eine große Veränderung innerhalb der osteuropäischen inoffiziellen Kunstkreise ein. In seinem Band präsentierte Groh nämlich die experimentellen Kunstansätze von Künstler*innen, deren Tätigkeit  außerhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit und somit der staatlichen Zensur stattfand und florierte. Da diese aufgrund der verhängten Restriktionen oft isoliert arbeiteten und sich der zeitgleichen Entwicklungen im In- und Ausland nicht bewusst waren, verlagerte die Publikation deren westlich geprägten Blick heimwärts, gen Osten, und eröffnete viele neue Kommunikationskanäle, Perspektiven und Möglichkeiten. Die Sammlung bietet demnach eine gründliche Übersicht über die zeitgenössischen Tendenzen der alternativen Kunstszenen Polens, der DDR, Ungarns, der Tschechoslowakei, Jugoslawiens und wird darüber hinaus durch Materialien aus Rumänien, Bulgarien sowie der ehemaligen Sowjetunion vervollständigt.

Der polnische Teil der Sammlung sticht durch die Spannbreite der repräsentierten Gattungen und Inhalte heraus. Auffällig ist außerdem die Menge von diversen Druckschriften, die durch unabhängige polnische Galerien herausgegeben wurden. Die Publikationen veranschaulichen die Entwicklung der parallelen Kunstszene und ihrer Kulturstätten, welche ab den 1960er Jahren im ganzen Land entstanden und ein solides Netzwerk für den nonkonformen künstlerischen Austausch bildeten. Die Werke und Korrespondenzen von 150 Künstler*innen runden dieses Bild ab, indem sie die vielen verschiedenen Facetten der inoffiziellen künstlerischen Aktivität in Polen detailliert dokumentieren. Dabei wird deutlich, dass Grohs Netzwerk sowie sein Interesse auf keine besondere Kunstrichtung ausgerichtet waren. Von maßgeblicher Bedeutung war ihm alleine die Suche nach neuen Ausdrucks- und Kommunikationsformen. Die Genres erstrecken sich dementsprechend von Mail Art (Henryk Bzdok, Paweł Petasz) über visuelle und konkrete Poesie (Marianna Bocian, Stanisław Dróżdż), Konzeptkunst (Jarosław Kozłowski, Andrzej Partum), Performance und Aktionskunst (Andrzej Dudek-Dürer, Tomek Kawiak), Fotografie (Jan Chwałczyk, Natalia Lach-Lachowicz) bis hin zur Video Art (Józef Robakowski, Ryszard Waśko).

Im Kontrast dazu steht der Inhalt der eingesandten und gesammelten Materialien aus der ehemaligen DDR, deren Schwerpunkt eindeutig die Werke der Vertreter der deutschen Mail Art-Szene bilden. Hervorzuheben sind vor allem die vielen Arbeiten der zentralen Akteure der ostdeutschen Alternativkultur, Guillermo Deisler und Robert Rehfeldt. Vor allem die gestaltete und inhaltlich reichhaltige Korrespondenz zwischen Klaus Groh und Robert Rehfeldt gewährt dem Leser einen Einblick in das berühmte Rehfeld‘sche Kontaktnetzwerk, das sich weit über die Grenzen der DDR ausbreitete und von großer Bedeutung für den Informationsaustausch zwischen Künstlern in Ost- und Westeuropa, Lateinamerika und den USA war.

Darüber hinaus stellt die Sammlung mit Werken und Korrespondenzen von Gábor Attalai, Imre Bak, Miklós Erdély, György Galántai, László Lakner, Dóra Maurer, Gyula Pauer, Géza Perneczky, Endre Tót u. a. ein einzigartiges Mittel zur Erforschung der kreativen Prozesse und Entwicklungen der ungarischen Neo-Avantgarde dar. Auffallend ist dabei nicht nur die Menge von konzeptuellen Künstlerpublikationen, Collagen und Fotodokumentationen, sondern vor allem die Anzahl von Werken, die lediglich in der Groh-Sammlung zu finden sind. Darunter sind u. a. Fotoarbeiten von László Lakner, Künstlerpostkarten von Gábor Attalai als auch diverse originelle Beiträge für Aktuelle Kunst in Osteuropa zu nennen.

Konzeptuelle und performative Aktivitäten der inoffiziellen Szene stehen ebenfalls im Zentrum des tschechoslowakischen Teils der Sammlung. Unter ihnen stechen die Arbeiten von prominenten Künstlern wie Stanislav Filko, Július Koller, Rudolf Sikora, Milan Knížák oder Petr Štembera heraus. Erwähnt seien auch Jiří Hynek Kocman, dessen vielfältige Mail Art Tätigkeit und konzeptuelle Arbeit sich durch ihren kommunikativen Charakter auszeichnen, als auch die originellen Schreibmaschinenarbeiten des renommierten Kunsttheoretikers und Vertreters der visuellen Poesie, Jiří Valoch.

Der jugoslawische Teil der Sammlung dokumentiert die Entwicklung neuer Kunstpraktiken, die seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre in den kulturellen Zentren von Zagreb, Ljubljana, Novi Sad, Subotica und Belgrad entstanden. Die Arbeiten der jungen Vertreter*innen der jugoslawischen unabhängigen Kunstszene sind dabei durch ihre Suche nach neuen Ausdrucksformen gekennzeichnet. Daher beinhaltet der jugoslawische Teil der Sammlung ein breites Spektrum an Genres, darunter konkrete und visuelle Poesie, Mail Art, Performance und Aktionskunst, Computer Art, Sound Art, Video Art usw. Ein erheblicher Teil dieser vielfältigen Arbeiten stammt von den Mitgliedern der 1969 in Subotica gegründeten Künstlergruppe Bosch+Bosch. Die vorhandenen Materialien von Künstler*innen wie Marina Abramović und Miroljub Todorović aus der Belgrader Szene, Bogdanka Poznanović und Predrag Šiđanin aus Novi Sad oder der in Ljubljana aktiven Vorreiter der jugoslawischen Video Art, Nuša und Srečo Dragan, vervollständigen das Bild der Entwicklung neuer Tendenzen in der alternativen Kunstszene Jugoslawiens.

Auch wenn der sowjetische Teil der Sammlung im Vergleich zu den anderen Teilen relativ klein ist, enthält er seltene und einzigartige Beispiele für inoffizielle und nonkonforme Kunst. Besonders hervorzuheben sind die Werke von Lev Nussberg und der Gruppe "Dviženie", die die Kunstrichtung "kinetische Kunst" entwickelt und darin gearbeitet haben. Ein Teil ihrer Werke befindet sich in der Sammlung von Klaus Groh. Erwähnenswert sind auch die Werke von Vagrič Bachčanjan, vor allem seine Buchobjekte ("präparierte Bücher"). Neben relativ bekannten Künstler*innen und Autor*innen wie Sergej Sigej, Dmitrij Prigov, Igor' Ross-Zacharov, Nick Smirnov und anderen enthält die Sammlung auch Werke von im Westen weniger bekannten Autoren wie Arkadij Novinskij, Vladimir Kosov, Vasyl Trubaj und anderen.
Erwähnenswert ist auch die Sammlung seltener Kataloge sowjetischer inoffizieller Kunst, die hauptsächlich in westeuropäischen Ländern veröffentlicht wurden.

Die Archivmaterialien wurde im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Archiverschließungsprojekts "Nonkonforme Visionen. Alternative Kunst und Kultur aus Mittel- und Osteuropa" der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Zur Sammlung alternativer Kunst aus Osteuropa von Klaus Groh in der FSO-Archivdatenbank