Die archäologische Aneignung der Antike
Seit Cola di Rienzo und Petrarca bezog sich der Begriff rinascita auf die Wiedergeburt Roms, das vor dem historischen Hintergrund der staatlichen Misere des 14. Jahrhunderts Inbegriff des Wunsches nach Einheit, Frieden und Größe war. Kein anderes europäisches Land außer Italien verfügte über eine solche bedeutsame historische Projektionsfläche. Zwar verstanden sich die deutschen Könige und Kaiser seit Karl dem Großen als Erben und legitime Nachfahren des römischen Weltreiches, aber in der Realität war Rom für sie doch nur eine Trophäe, die ihnen als Legitimation und als politisches Instrument bei der Durchsetzung ihrer Machtpolitik diente. Für die frühen Humanisten verband sich dagegen mit der Vorstellung eines wieder erstarkenden Rom eine wirkliche Vision. Die Wiederbelebung der Antike, deren Vehikel zunächst die Texte antiker Autoren waren und ihre Nachahmung in eigenen Werken der Dichtung – hier sind Petrarca und Boccaccio zu erwähnen – ließ sich dank der Existenz Roms als eine konkrete Aufgabe verstehen. Denn trotz aller Verluste waren die Zeugen der Antike in Rom noch so zahlreich, dass sie reichliches Anschauungsmaterial boten. Zwar verfügten auch andere Städte Italiens über ansehnliche architektonische Reste der Antike – es sei an Verona mit seiner Arena oder an Turin und Aosta in Piemont erinnert – aber die Aktivierung und Erkundung dieser steinernen Überlieferung hatte dort keinen so nostalgischen und erhabenen Hintergrund wie dies für Rom galt.
Roms faszinierende und in den Trümmern liegende Größe konnte jedoch nur von Geistern entdeckt werden, die sich von den geistigen Scheuklappen befreit hatten, mit denen das Christentum über Jahrhunderte lang auf die Zeugnisse der heidnischen Antike geblickt hatte. Schon Dante Alighieri (1265–1321) war davon überzeugt, dass die Steine von Rom Ehrfurcht verdienten und dass der Boden der Stadt würdiger sei als man glaube. Petrarca schrieb nach seinem ersten Rombesuch 1337, dass er sich davor gefürchtete hatte, die Realität der Stadt würde seinen Erwartungen nicht standhalten. Und er konstatiert: „Aber sie hat wunderbarerweise nichts vermindert, sondern alles vergrößert. Rom war wirklich größer, als ich glaubte, und größer sind seine Trümmer.“
Dass Rom schon im 14. Jahrhundert als Quelle poetischer Inspiration galt, zeigt auch Boccaccios Ratschlag an den Dichter, er solle die antiken Monumente Roms aufsuchen. Die Faszination durch die Trümmer erklärt sich aus dem nostalgischen Blick auf sie. Anscheinend war die Faszination der Ruinen größer als die der für das Christentum dienstbar gemachten Antike, die im mittelalterlichen Rom omnipräsent war. Es gab viele Kirchen, die sich in Tempeln und andere antiken Bauten eingenistet hatten. Diese funktionalen Symbiosen von Antike und Mittelalter folgten einem nachantiken Proportionsschema, so bei der Inkorporierung von Säulen und anderen antiken Resten (spolia), wie etwa antiker Architrave in frühchristliche und romanische Basiliken. Nur in einem einzigen Fall, dem Pantheon, das inzwischen eine Marienkirche war, überlebte ein auch im Inneren intakter antiker Bau. Es ist wohl kein Zufall, dass die erste Wahrnehmung der Schönheit des antiken Rom durch Nichtrömer geschah. Auch in den kommenden Jahrhunderten waren es meistens keine gebürtigen Römer, die sich von der antiken Größe der Stadt inspirieren ließen. Es bedurfte eines nicht durch Gewohnheit abgestumpften Blicks, um die verborgenen Schönheiten der antiken Gebäude wahrzunehmen. Tatsächlich vollzog sich diese Entdeckung der gebauten Antike früher als die Entdeckung der antiken Statuen und Bildwerke, bei denen es sich nach christlicher Überzeugung um Götzenbilder handelte.