Von Ghiberti zu Piero della Francesca: Zentralperspektive und Bildgestaltung
Ein empirisches Konzept von der Perspektive vertrat Brunelleschis Konkurrent Lorenzo Ghiberti, der bei seinem Tod im Jahr 1455 nicht nur die Requisiten seiner Werkstatt und seines Haushaltes vererbte, sondern auch „disegni, libri und scripture“. Zu den Schriften, die Ghiberti seiner Familie hinterliess, gehörten die „Commentarii”, ein unvollendet gebliebener Traktat, der in einer Abschrift aus der Mitte des 15. Jahrhunderts überliefert ist. Ghiberti hat hier nach dem Vorbild des Malers Cennino Cennini sein Wissen von der alten und neueren Kunst mit seinen praktischen Kenntnissen und Berechnungen von Perspektive, Optik, Proportion und Anatomie vereinigt. Er beginnt mit einem historischen Abriss der berühmten Künstler seit der Erfindung der Malerei durch den Schlagschatten, den er den Ägyptern zuschreibt, und die bis in die Gegenwart reicht und ihn selbst einschließt. Den weitaus größten Teil von Ghibertis Schrift nimmt der Teil über die Optik (Teoria della visione) ein, des weiteren beschäftigt er sich mit der Proportion des Menschen. Sein Ziel ist es, einen roten Faden für die Ausbildung des Künstlers zu geben. Dieses Ziel dürfte er kaum erreicht haben, und zwar nicht nur deswegen, weil seine Schrift unvollständig blieb und einen geringen Verbreitungsgrad erreichte, sondern auch weil die Sprache, die sie spricht, umständlich und unanschaulich ist.
Die Regeln, die Ghiberti für die von ihm praktisch beherrschte und von ihm dolce prospettiva genannten Perspektive gibt, entbehren der Klarheit und Eindeutigkeit, die Albertis Erklärung der costruzione legittima auszeichnet. Ghibertis synthetische Perspektive bot kein nachahmungsfähiges System, sondern war die Summe von Erfahrungen und zum Teil äusserst subtilen Beobachtungen. Zugleich stellt er höchste Ansprüche an die künstlerische Ausbildung, wenn er am Beginn seines Traktats programmatisch erklärte: „Es ist sinnvoll, daß der Bildhauer und auch der Maler in den artes liberales unterrichtet ist, nämlich Grammatik, Geometrie, Philosophie, Medizin, Astrologie, Perspektive, Geschichte, Anatomie, Theorie der Zeichnung und Arithmetik.“ Alberti dagegen, der die artes liberales beherrschte, beginnt mit der entgegen gesetzten Position, indem er klar macht, dass er seinen Traktat nicht als Mathematiker schreibt, sondern als Maler. Vielleicht aus rhetorischen und didaktischen Gründen begab er sich hier in eine Rolle, die ihm dabei half, sein Ziel zu erreichen, nämlich die Maler nicht mit unverständlicher Theorie zu bombardieren, sondern ein praktikables Hilfsmittel an die Hand zu geben, das vor allem bei der maßstabsgerechten Vergrößerung und Verkleinerung der Figuren in einem fiktiven Raumgebilde hilfreich war. Auch Alberti erklärt, dass es ihm gefalle, wenn der Künstler in den artes liberales bewandert sei, am Anfang jedoch müsse er die Geometrie beherrschen, d.h. die mathematische Grundlage zur Anwendung der Perspektive.
Eine der ersten Anwendungen dieser neuen Methode zur Organisierung des Bildraums stammt von Donatello. Er, der mit Brunelleschi befreundet war und mit ihm eng zusammen arbeitete, machte 1417 in seinem Relief der Tötung des Drachen durch den hl. Georg in der gleichnamigen Ädikula des hl. Georg an Orsanmichele erstmalig von diesem neuen Prinzip der Gestaltung Gebrauch. Zusammen mit Masaccio gehört er zu den drei Künstlern, die Alberti im Vorwort (Proemio) des Malereitraktats namentlich erwähnt hat. Masaccio hat das Verfahren der costruzione legittima in seinem berühmten Wandbild der Trinität in S. Maria Novella angewendet, das um 1426 datiert wird und damit zu den Werken gehört, auf die sich Alberti beziehen konnte, wenn er ihre Schöpfer dafür lobt, dass sie über soviel ingegnium verfügten, dass sie keinem der alten und berühmten Künstler nachstünden. Dass er damit nicht die Vorgänger aus der Generation Giottos meinte, sondern die der Antike, wird daran deutlich, dass er den Alten (antichi) zugute hält, dass sie eine Menge von Werken vor Augen hatten, die sie nachahmen und von denen sie lernen konnten, während die heutigen Künstler ohne „exemplo alchuno” Künste und Wissenschaften entdecken würden, von denen man vorher noch nichts gehört und gesehen habe.
Die Weiterentwicklung der Zentralperspektive zu einem Instrumentarium, das die Voraussetzung dafür schuf, unterschiedliche Standorte und Fluchtpunkte auch bei sehr großen oder uf weit entfernten Wandflächen zu konstruieren, war nur eine Frage der Zeit. Schon Donatellos Stuckreliefs in den Pendentifs der Alten Sakristei von S. Lorenzo zeigen die Beherrschung dieses Verfahrens für starke Verkürzungen, das so genannte sotto in su. Piero della Francescas Traktat „De prospettiva pingendi” von ca. 1484 perfektionierte die Nutzanwendung der Perspektive für große Flächen und große Figuren, deren Bewältigung auch schon von Alberti als Ziel seiner Unterweisung angegeben wird: „Ich will, daß du dich im Zeichnen großer Dinge übst, die annähernd die Größe des von dir Gezeichneten darstellen". Piero della Francesca ging weit über diese Position hinaus, wenn er erklärte, dass „die Malerei nichts anderes bedeutet als Darstellungen von in ihren Bildflächen verkürzten oder vergrößerten Flächen und Körpern“. Auch Leonardo handhabte die Perspektive als eine flexible Größe, die es ermöglichte, starke Verkürzungen zu bewältigen und obwohl er die Defekte des Systems erkannte, hielt er es für überdimensional große Wandbilder geeignet, da „ein Auge, das eine Wandmalerei betrachtet, (...) sich immer in die Mitte des Bildes” versetze.
Die Zentralperspektive war für Alberti nicht Selbstzweck, sondern folgte dem Ziel einer möglichst großen Nachahmungstreue der Malerei gegenüber der Natur. Dieses Ziel war auch der früheren Kunst nicht fremd gewesen, aber unter Naturtreue wurde damals etwas anderes verstanden. Wenn Cennino Cennini, dessen Traktat über die Malerei um 1390 entstanden ist, dem Maler empfohlen hatte, soviel wie möglich nach der Natur abzubilden, so verstand er darunter die Genauigkeit in der Wiedergabe der einzelnen Dinge und Lebewesen, nicht aber die Gesamtkonzeption, die „im Kopf entsteht“. Alberti dagegen ging es um eine Darstellung, die für ihn das Spiegelbild der Wirklichkeit ist. Als Gleichnis für die Entstehung der Malerei wählte er nicht – wie Ghiberti – das Bild vom Schatten auf der Wand, das auf Plinius d. Ä. zurückgeht, sondern die in Ovids „Metamorphosen” geschilderte Darstellung des Narziss, der sich in sein sich im Wasser spiegelndes Abbild verliebt und daran zugrunde geht. Der Vergleich mit dem Spiegelbild ist für den Maler eine Kontrolle, Alberti und Leonardo bezeichnen den Spiegel als den Meister des Malers, womit auf Brunelleschis perspektivisches Experiment >L.III.5 verwiesen wird.
Auf der Fähigkeit, die Wirklichkeit vollkommen wiederzugeben, ohne dafür etwas anderes als eine plane Fläche zu benutzen, beruht nach Albertis Ansicht die Exzellenz der Malerei, die für ihn die vornehmste der bildenden Künste ist. Er legte damit den Grundstein für den später von Leonardo aufgegriffenen Vergleich, der in den eloquent und hartnäckig geführten Streit um den Vorrang zwischen Skulptur und Malerei münden sollte, der heute als Paragone-Streit bezeichnet wird. Alle Regeln, die Alberti für die Anlage eines Bildes, für seine historia, d.h. seinen Inhalt, wie auch für den Ausdruck und die Bewegungen der einzelnen Figuren gibt, hängen mit dieser Vornehmheit der Kunst der Malerei zusammen, in der er eine göttliche Kraft (forza divina) sieht, die abwesende Personen und Dinge gegenwärtig macht. Der Maler, der sie meisterhaft beherrsche, werde gleichsam als ein zweiter Schöpfer (secondo iddio) angesehen. Die Voraussetzung für diese Vorstellung war der Topos von Gott als Maler, den Boccaccio in einer seiner Novellen des „Decamerone” aufgegriffen hatte. Das Konzept vom göttlich inspirierten Künstler wurde fundamental für Leonardo da Vinci, in dem Alberti seinen gelehrigsten „Schüler“ finden sollte, obwohl sich beide vermutlich niemals begegnet sind. Obwohl Albertis Traktat in in der lateinischen Version erst 1540 gedruckt wurde, kann man davon ausgehen, dass genügend Abschriften kursierten, so dass sein Inhalt zumindest in Florenz in Künstlerkreisen bekannt war.
Alberti ist für die theoretische Grundlegung der Malerei, der Skulptur und der Architektur verantwortlich. Seine drei Schriften lassen eine programmatische Intention erkennen. Für die Regeln, die er dem Künstler geben wollte, führte er ein System von Begriffen ein, die langfristig zur Regulierung und zur Reglementierung des künstlerischen Prozesses führten und auf denen praktisch die gesamte spätere Kunsttheorie basiert. Der Künstler muss nach dieser Auffassung von denselben grundlegenden Dingen ausgehen wie der Mathematiker. Dabei soll er aber nicht nach abstrakter Erkenntnis streben, sondern indem er die Welt abbilde, mache er ihre Prinzipien sichtbar. Für Alberti ist der Mensch das Maß aller Dinge. Dank der ihm von der Natur (Gott) verliehenen Eigenschaften könne er sein Leben selbst bestimmen. Er sei daher schöner und edler als irgend etwas Sterbliches. In seiner Schönheitsauffassung geht Alberti von einer Harmonie in der Welt aus, welche für ihn die Quelle des Schönheitsempfindens bildet. Sie zu erfassen, sei das Ziel der Kunst. Dazu sind sowohl bestimmte Regeln notwendig, wie z.B. die Einheit der Teile, die Begrenzung des Gegenstandes, eine bestimmte Farbgebung und der Lichtwert, sowie das Streben nach Illusion und Lebendigkeit in der Naturnachahmung . Albertis Berührung mit neuplatonischem Gedankengut, für das seine Schriften mehrfache Hinweise enthalten, erklärt sich aus seinen Beziehungen zu den Florentiner Neuplatonikern, unter denen Marsilio Ficinodie herausragende Figur war.
Albertis dem Umfang nach kleinste Schrift über die Kunst ist kaum minder wichtig als die beiden anderen. „De Statua” - so nannte er seinen Traktat zur Skulptur, über dessen Entstehungszeit sich die Spezialisten nicht einig sind. Für die einen ist der Text zur gleichen Zeit entstanden ist wie „De Pictura”, also um 1435, für die anderen, darunter Anthony Grayson, erst nach 1450 Bereits der Titel ist Programm, da sich in dieser Zeit die Skulptur nicht vorrangig in der Statue manifestierte, während sie Inbegriff der Vorstellung von der Antike war. Ein Aspekt, mit dem sich Alberti ausführlich beschäftigt hat, betrifft den Ursprung der Skulptur, für den er den Zufall verantwortlich macht: eine Lehmkugel, die geformt wird oder ein Holzstück, das geschnitzt wird. Er unterscheidet zwischen der Figur, die durch Abarbeitung von Material entsteht – ihre Produzenten nennt er scultori – und der die durch Hinzufügen (Formen) entsteht. Letztere nennt er fictores (griech. plasticos). Einer eigenen Kategorie gehören diejenigen an, die – wie die Goldschmiede – Metall durch Hinzufügen von Material formen. Den Bronzeguss, der damals bereits eine große Bedeutung hatte, etwa für Donatello, mit dem Alberti persönlich bekannt war, erwähnt er nicht. Im Zentrum des Traktates stehen vielmehr grundsätzliche Fragen. Vor allem geht es Alberti um die Ähnlichkeit, die die Statue mit dem wirklichen Menschen haben soll. Er unterscheidet hier zwischen einer anthropologischen Ähnlichkeit und einer individuellen Porträtähnlichkeit. Um sie zu erreichen, empfiehlt er zwei Methoden, die er mit den Begriffen dimensio und finitio umschreibt.