Venedig in der Renaissance

Infolge des Sacco di Roma (1527) und nach der Eroberung von Florenz durch die kaiserlichen Truppen im Jahr 1530 wurde Venedig zum wichtigsten Anziehungspunkt für eine Reihe von prominenten Flüchtlingen aus beiden Kunstzentren. Unter ihnen war der aus Florenz stammende Bildhauer und Architekt Jacopo Sansovino, der von 1529 bis 1570 das Amt des Protomaestro innehatte und damit oberster Architekt der Serenissima war. Auch der in Rom ausgebildete Veroneser Architekt Michele Sanmicheli, dem vor allem die Aufgaben als Militärarchitekt zufielen, kam 1527 nach Venedig, desgleichen Sebastiano Serlio, der Schüler von Peruzzi war. Während seines Aufenthaltes in Venedig (1527–1539) veröffentlichte er dort das spätere IV. Buch seines mehrbändigen Architekturtraktates. Mit diesem Kreis illustrer Künstler stand auch der Dichter und Weltmann Pietro Aretino (1492–1556) in Verbindung, der die schillerndste und umstrittenste Persönlichkeit aus dem römisch-florentinischen Humanistenkreis war. Er gab der künstlerischen Entwicklung in der Lagunenstadt entscheidende Impulse >L.XVI.9 und sollte einer der wichtigsten Vermittler zwischen Venedig und Mantua werden. Aus der Sicht der italienischen Historiker war Venedig die einzige italienische Macht, die sich ihre traditionellen Rechte und Freiheiten und den Status einer Republik bewahrt hatte.

Im Unterschied zu Florenz hatte Venedig eine exklusiv durch die Aristokratie ausgeübte Regierung. Wahlberechtigt für die Regierungsämter waren nur die seit 1315 in das „Goldene Buch” eingeschriebenen Familien. Aus ihnen konstituierte sich der Große Rat (Consiglio Maggiore), der aus 480 Mitgliedern bestand und der den Dogen auf Lebenszeit wählte. Das einzige Kontrollgremium war der vom Senat auf Zeit ernannte und für die Sicherheit zuständige Consiglio dei Dieci, unter dem man sich eine Art Inquisition vorstellen muss. Er etablierte sich im Laufe der Jahrhunderte als die mächtigste Institution des Staates und war u.a. auch dazu in der Lage, den Dogen zu entmachten. Der bekannteste Fall ist der des Dogen Francesco Foscari, der einer der Väter der Pax Italiae von 1454 gewesen war >L.II.5, und dem Venedig seinen Landgewinn auf dem Hinterland (Terraferma) verdankte. Venedigs innenpolitische Verhältnisse waren dank des gut eingespielten Regiments und dank des Wohlstandes der Stadt stabil, wenn auch arm an innovativen Kräften. Die Isolation des Inselstaates gegenüber dem Hinterland war eine Folge der politischen und wirtschaftlichen Expansion in den östlichen Adriaraum. Über einen langen Zeitraum der bewegten und in Abhängigkeiten verstrickten italienischen Geschichte hatte Venedig zweifellos die bessere Position. Der Florentiner Weltreisende und Diplomat Benedetto Dei (1418–1492) stellte in seiner „Lettera a Vinitiani“ von ca. 1470–1480 fest, dass Venedig in seiner bewegten tausendjährigen Geschichte viel erlitten und erlebt habe ohne jemals etwas zu ändern oder zu erneuern.

Die Handelsbeziehungen brachten Venedig und seine Bürger in Kontakt mit einer internationalen Klientel, die nicht nur das kontinentale Europa, sondern alle Anrainer des östlichen Mittelmeers, den Balkan, den griechisch-byzantinischen und auch den vorderasiatischen Raum einschloss. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahr 1453 wandelte sich jedoch die politische Situation der Serenissima grundlegend. Trotz guter wirtschaftlicher Beziehungen zu den Osmanen bröckelte die Machtbasis, auf der Venedigs sprichwörtlicher Reichtum mit einem jährlichen Exporterlös von 10 Millionen Dukaten beruhte. In dem 1454 geschlossenen Frieden von Lodi hatte sich Venedig die oberitalienischen Gebiete mit Mailand geteilt: das venezianische Einflussgebiet reichte nun bis zum Fluss Adda und umfasste Städte wie Brescia und Bergamo, war allerdings weiterhin durchsetzt von einer Reihe kleiner Territorialherrschaften >L.II.5. Nach dem Tumult, in dem sich die Pax Italiae 1494 nach der Eroberung Mailands auflöste, wurde Venedig die wichtigste, aber auch die unberechenbarste Macht im italienischen Staatengefüge.

Die Geschichte Venedigs lässt sich in den ersten drei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts in drei Abschnitte einteilen. Von 1494 bis 1508 gelang es der Stadtrepublik, aus der verworrenen italienischen Situation erhebliche Vorteile zu ziehen. Unter dem Zwang, sich nach zwei langen und verlorenen Kriegen gegen die Osmanen (1479, 1503) neue Ressourcen erschließen zu müssen, richtete Venedig seine Interessen in verstärktem Maße auf das Festland und betrieb eine ausgesprochen aggressive Territorialpolitik, mit der es sich viele Feinde machte. Der zweite Abschnitt umfasst die Jahre von 1508 bis 1516, die von ständig wechselnden Besitzverhältnissen auf der Terraferma und vom Verlust der globalen wirtschaftlichen Vormachtstellung gekennzeichnet waren. Letzteres war die Folge des von den Portugiesen 1509 eröffneten neuen Seewegs nach Asien, der um das Horn von Afrika führte. Das Schicksalsdatum war jedoch die Niederlage der Serenissima gegen die in der Liga von Cambrai zusammengeschlossenen europäischen Mächte bei Agnadello am 14. Mai 1509, bei der Venedig alle seine Festlandsbesitzungen einbüßte.

Ein Kaufmann hat über die Wirkungen der Nachricht von der Niederlage auf die Stadt wie folgt berichtet: „die Kirchen widerhallen von Litaneien, die Frauen gehen ohne Schleppe, jede mit einer Kerze in der Hand, dazu schwere Teuerung und Not. Herr erbarme dich unser.“ Im nächsten Jahr schon revanchierte sich die Markusrepublik jedoch mit einem Sieg über Kaiser Maximilian I. in der Nähe von Padua und paktierte in den kommenden Jahren erfolgreich sowohl mit den Franzosen wie mit dem Papst. Im Frieden von Noyon (1516) und im Vertrag von Brüssel (1517) erhielt es schließlich fast alle seine Festlandbesitzungen zurück. Nun kam es auch zu einer Einigung mit Kaiser Maximilian I. Die beiden Dogen, die die Geschicke Venedigs während dieser kriegerischen Phase leiteten, waren Agostino Barbarigo und sein Nachfolger Leonardo Loredan. Der dritte Abschnitt zwischen 1517 und 1530 war durch wechselnde Bündnisse gekennzeichnet. Venedig paktierte abwechselnd mit dem deutschen Kaiser und mit den Franzosen und widersetzte sich allen Versuchen zur Etablierung eines italienischen Staatenbundes, wie ihn Karl V. während seines fünfmonatigen Aufenthaltes in Bologna (November–März 1530) in Absprache mit dem Papst und den anderen italienischen Fürsten favorisierte. Es kam jedoch in Bologna immerhin zu einer generellen Friedensvereinbarung, die auch von Venedig mitgetragen wurde.

Die beiden Dogen dieses Zeitabschnittes waren Antonio Grimani (1521–1523) und Andrea Gritti (1523–1538). Insbesondere Gritti gilt als der Architekt der gemäßigten Politik der Serenissima, zugleich war er derjenige, der sich um eine effektive Neuorganisierung der venezianischen Verwaltung kümmerte. Der Florentiner Historiker Donato Giannotti (1492–1573) lobt die Regierung dieses Dogen über die Maßen.

Ab 1530 stabilisierte sich das Verhältnis Venedigs zu seinen früheren Gegnern. An die Stelle der politischen Ambitionen traten nun die Handelsinteressen und die zunehmende Bedeutung der Stadt als kultureller und merkantiler Umschlagsplatz. Dank des diplomatischen Geschicks, durch das sich die Markusrepublik schon immer ausgezeichnet hatte, wurde Venedig auch zu einer Art Nachrichtenbörse, besonders für das immer angespannte Verhältnis zu den Osmanen und anderen östlichen Nachbarn. Der Reichtum nahm wieder zu, die Besitzungen auf der Terraferma warfen Gewinn ab. Ihren künstlerischen Ausdruck findet diese Prosperität vor allem in den Villen, die seit den dreißiger Jahren im Gebiet zwischen Vicenza und Padua errichtet wurden. Eine der frühesten Villen ist die des Humanisten Giangiorgio Trissino bei Vicenza, die zwischen 1530 und 1538 entstand und deren noch deutlich von Peruzzis Villa Farnesina beeinflusster Bau vor allem deswegen bemerkenswert ist, weil er sich mit dem Aufstieg von Andrea Palladio verbindet, der, vom Bauherrn hier entdeckt, von ihm seitdem gezielt gefördert wurde >L.X.9.

Die Bevölkerung Venedigs wuchs in dieser Zeit auf 175 000 Bewohner an, Gleichzeitig etablierte sich zwischen den Patriziern und den unteren Schichten (popolani)eine kleine, aber sehr wohlhabende Schicht von Bürgern, die den Status von Bürgern (cittadini) hatten und bei denen es sich meistens um Dienstleiser, Juristen, Kaufleute und wohlhabende Gewerbetreibende und Handwerker handelte. Diese Schicht wurde zu einem der wichtigsten Träger der Renaissance in Venedig, da sie sich vor allem in frommen Bruderschaften organisierte, die sich in den Dienst karitativer Aufgaben stellten und dafür eigene Gebäude errichteten, die zugleich Schauplätze der gesellschaftlichen Repräsentation waren. Träger dieser Einrichtungen waren die den Bruderschaften übergeordneten und nach beruflichen Sparten getrennten scuole, das venezianische Pendant zu den arti in Florenz, die in etwa den in Deutschland üblichen Zünften entsprechen. Auf der künstlerisch hochrangigen Ausstattung der Gebäude, die in Analogie zur Institution ebenfalls als scuola bezeichnet werden, beruht ein Großteil des Glanzes der venezianischen Renaissance. Gentile Bellini, Vittore Carpaccio, Tizianund andere Künstler fanden hier ein reiches Betätigungsfeld, das zugleich das Forum wurde, auf dem künstlerische Konkurrenzen ausgetragen wurden und Innovationen zustande kamen >L.XVI.3.

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