9. Palladios Villen
Deutlich beeinflusst vom Vorbild der Loggia Cornaro, aber auch durch die römische Villa Chigi zeigt sich die Villa Trissino in Cricoli, die sich der Dichter und Diplomat Giangiorgio Trissino (1478–1550) ab 1531 nach seinen eigenen Entwürfen in der Nähe seiner Vaterstadt Vicenza errichten ließ. Trissino, der ein unvollendetes Traktat über die Architektur hinterlassen hat, gilt als der Entdecker Andrea Palladios, dem er vor 1538 in Vicenza begegnet ist. Ihm jedenfalls verdankt der als Steinmetz ausgebildete Andrea di Pietro della Gondola, Sohn eines Müllers aus Padua, den Künstlernamen, unter dem er sich zu einem der herausragenden Baumeister seiner Generation profilierte. Wegen dessen „großer Neigung für die mathematischen Wissenschaften“ war Trissino auf ihn aufmerksam geworden und beschloss, ihn „persönlich in Vitruv einzuführen“. Er begleitete Palladio dreimal nach Rom, und über ihn scheint Palladio auch Alvise Cornaro kennengelernt zu haben, dessen architektonische Prinzipien für den privaten Hausbau er sich zu eigen gemacht hat.
Für die venezianische Villa, bei der das Haus das Zentrum und den hierarchischen Mittelpunkt eines nach Lage, Funktionen und Benutzern komplexen Gebildes darstellt, ist Palladio durch das zweite Buch seiner „Quattro Libri dell’Architettura“zur entscheidenden Autorität geworden. Hier setzt er sich mit der differenzierten Typologie der von ihm errichteten Bauten auseinander, erklärt und begründet ihre Lage und ihre Raumeinteilung aus den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Funktionen. Das hierarchische Prinzip ist ihm dabei besonders wichtig, d.h. er favorisiert die architektonische Hervorhebung der herrschaftlichen Wohnung gegenüber den weitläufigen und meistens niedrigeren Wirtschaftsgebäuden. Die Typologien, die den Erfordernissen der Bauherrn angepasst sind, wobei die regionalen Traditionen keine Rolle spielen, sind sehr vielfältig. Dass Palladios Villen keinem vorgegebenen Fassadenschema folgen, wird auch an den variablen Geschosshöhen und an der Disposition der oft ungerahmten und unterschiedlich großen Fenster deutlich. Die Außengestalt visualisiert die unterschiedlichen Funktionen der Innenstruktur, deren Zentrum der große Saal mit gutem Oberlicht bildet, dem sich die übrigen Räume unterordnen. Grundsätzlich konzipierte Palladio seine Villen von der Innendisposition und nicht von der Fassade her.
Ein Motiv, das die würdige Betonung des Eingangs zum Haus des Edelmannes (gentiluomo) gewährleistet, ist das Frontespicio, wie Palladio den zentralen, von einem Giebel überfangene Vorbau nennt. Er beruft sich für diese Wahl auf die antiken Tempel, die diese Front aus dem privaten Hausbau entwickelt haben. Tatsächlich ist die dem Baukörper vorgeblendete Tempelfront, die oft ein Vestibül verbirgt, manchmal aber auch nur aufgeblendet ist, zur „Signatur“ der Villen Palladios geworden, wobei es von Fall zu Fall große Unterschiede gibt. Auch wenn, wie es Alvise Cornaro den weniger wohlhabenden Bauherren empfiehlt, bei Palladios Villen der Baukörper selbst ohne applizierte Säulen- oder Pilasterordnung bleibt, vermittelt die Tempelfront vor dem Eingangsbereich die Botschaft der Dignität. Hierin weicht Palladio von der Empfehlung Vitruvs ab, der hohe Vorhallen und weiträumige Atrien nur bei den Häusern von Persönlichkeiten gelten lässt, die Ehren- und Staatsämter bekleiden. Auch Alberti ließ den Gebrauch des Tempelgiebels an Privatbauten nur in Ausnahmefällen zu, um der Würde des aus der sakralen Tempelarchitektur stammenden Motivs nicht zu schaden.
Palladios Missachtung der funktionalen Angemessenheit ist als ein Symptom der für den Manierismus charakteristischen Abweichung von den etablierten Normen interpretiert worden. Obwohl der klassische Formenapparat zunächst gegen eine solche Einschätzung spricht, trifft dies auch auf die Villa Almerico-Capra bei Vicenza zu, genannt La Rotonda, die wohl Palladios berühmteste und in sich stimmigste Schöpfung ist. Palladio hat die Villa in den „Quattro Libri“ unter die Stadtpaläste eingereiht, denen sie aber in keiner Weise ähnelt, da sie freistehend und ohne rahmende Wirtschaftstrakte in ländlicher Umgebung errichtet wurde. Als Begründung beruft er sich auf die Nähe zur Stadt. Das auf einem flachen Hügel gelegene Bauwerk entstand ab 1566 als Landhaus und Alterssitz des Prälaten Paolo Almerico, d.h. ähnlich wie Petrarcas Landhaus bei Arqua diente es vor allem der Kontemplation und der Augenweide an den „bellissime viste“ auf den Fluss und die „amenissimi colli“, die „dem Ganzen den Anschein eines großen Theaters geben“. Auf quadratischem Plan erhebt sich ein Kubus, der von einer Kuppel bekrönt ist. Vier gleichförmige tempelartige Prostylen – wegen ihrer sechs (ionischen) Säulen als Hexastylos zu bezeichnen – sind den vier Außenfronten vorgelagert. Palladio gibt eine einfache Begründung für diese Lösung, auf der die Einmaligkeit der Anlage beruht: „Weil man sich auf alle vier Seiten hin der schönsten Aussicht erfreut, wurden auf allen Fassaden Loggien errichtet.“Die von hohen Wangen eingefassten Freitreppen sind dem Sockelgeschoss vorgelagert, während die von Figuren bekrönten Giebeldreiecke der Höhe des Attikageschosse entsprechen. Die Kuppel, deren größerer Teil sich unter dem Dach verbirgt, erhebt sich über dem kreisrunden Saal, von dem sich der landläufige Name der Villa La Rotonda ableitet.
Die Symmetrie und Zentralität des Außenbaus bestimmt auch die innere Raumdisposition: gegenläufig zu den Korridoren der vier Hauptachsen, die sich im Mittelsaal kreuzen, sind die Nebenräume wie eine um das Zentrum gelegte Enfilade durch ihre axial angelegten Türöffnungen miteinander verkettet. Von allen Villen Palladios drückt dieser Bau, der die Konventionen des privaten Landhauses sprengt, am reinsten seine architektonischen und ethischen Prinzipien aus. Die Vervierfachung der Portiken, die das Gebäude aus der Ferne eher wie eine Kirche erscheinen lassen, lässt sich kaum allein aus der Aussichtsfunktion erklären. Auch die Kuppel, die im Sakralbau der Renaissance eine so wichtige Rolle spielt, ist ein Indiz der Überschreitung der Normen, die mit den Funktionen der Architektur verbunden waren. Wenn die Nobilitierung des Privathauses so weit geht, dass man es eher mit einem Tempel als mit einer menschlichen Behausung assoziiert, dann werden, wie dies Alberti befürchtet hatte, grundsätzliche Werte in Frage gestellt. Möglich war dieses „Sakrileg“ nur in einem Umfeld, in dem der Architekt die Regeln aufstellte und nicht der Bauherr und die Gesellschaft. Es wird angenommen, dass Palladio mit dieser Anlage die Idealrekonstruktion des antiken Tempels des Herkules Victor in Tivoli beabsichtigte. Er setzte sich jedenfalls über die praktischen und funktionalen Erfordernisse eines Landhauses hinweg, um ein idealschönes Monument der Architektur zu schaffen, von dem über die Jahrhunderte hinweg eine enorme Anziehung ausgehen sollte.