Tizian als Porträtist

Tizians Porträts, die einer der absoluten Höhepunkte dieser malerischen Gattung sind, galten schon für Vasari als exemplarisch: „Es gab fast keinen namhaften Herrn, keinen Fürsten und keine hochstehende Dame, die von Tizian […] nicht porträtiert worden wäre“. Aus der illustren Reihe seiner Bildnisse hoher Würdenträger ragen zwei heraus, in denen die Grenze zwischen Bildnis und Historienbild gesprengt wird. Das erste von ihnen ist das Bildnis Papst Pauls III. mit seinen Neffen Alessandro und Pier Luigi Farnese, das 1546 in Rom entstanden ist. Nie zuvor und auch nicht später hat es ein Maler gewagt, in so ungeschminkter Weise das Übel des Nepotismus zu veranschaulichen, ohne die Grenze der Diskretion zu überschreiten. Das zweite Bildnis ist das Porträt Karls V. zu Pferde, das den Kaiser nach der Schlacht bei Mühlberg zeigt, in der er am 24. April 1547 die Protestanten unter Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen besiegt hatte. In programmatischer Absicht wird der Kaiser hier mit der Heiligen Lanze Kaiser Ottos I. porträtiert, hat. Als epochal gilt die Übertragung einer Typologie, die bis dahin für Heerführer und Lokalherrscher in Grabmälern und Statuen geläufig war >L.XVI.2, auf das offizielle Herrscherporträt. Tizian malte dieses Bildnis während seines Aufenthaltes in Augsburg, der von Januar bis September 1548 dauerte. Während dieser Zeit porträtierte er eine Reihe von Reichsfürsten und Würdenträgern, die an dem Augsburger Reichstag teilnahmen, der die von Karl V. angestrebte Schaffung eines deutschen Bundesstaates verfehlte. Als Tizian 1550 erneut für einige Monate nach Augsburg kam, porträtierte er im Februar 1551 erstmalig den späteren König Philipp II. von Spanien und griff dabei auf den Typus des Bildnisses zurück, das er 1533 von Karl V. in Bologna gemalt hatte. Für dieses früheste Bildnis des Kaisers von seiner Hand richtete sich Tizian nach dem 1532 ebenfalls in Bologna entstandenen Bildnis von Jacob Seisenegger. Die nahezu deckungsgleiche Wiederholung, in der Tizian mit malerischer Bravur Seiseneggers eher skulpturalen Modus konterkariert, zielte vielleicht auf einen Paragone der „deutschen“ und der „welschen“ Manier.

Abgesehen von den Herrscherporträts und wenigen anderen Ausnahmen dominiert im Porträtschaffens Tizians das Halbfigurenbildnis. Ausgehend von formalen Kriterien lassen sich drei zeitliche Phasen unterscheiden. Symptomatisch für die frühe Phase um 1510, als er noch unter dem Einfluss Giorgiones steht, sind das oft als Bildnis des Dichters Ariost bezeichnete Porträt eines Mannes mit blauen Wams, und das Bildnis einer Frau, das auch unter dem Titel La Schiavona bekannt ist . Die Dargestellten posieren vor einem atmosphärischen neutralen Grund hinter einer Brüstung, welche die Halbfigur büstenartig isoliert. Zur Monumentalisierung ihrer Erscheinung tragen das plastische Volumen der Gewänder und der Gesichter sowie die Untersicht bei. Auffällig ist die Fixierung des Betrachters durch den ebenso aufmerksamen wie distanzierten Blick. Die junge Frau präsentiert ihm ein Relief, das erkennbar ihr eigenes Profilbildnis zeigt. In die mittlere Schaffensperiode gehören die nicht genau datierbaren Bildnisse eines jungen Mannes mit Handschuh (ca. 1523) und das Bildnis einer Dame in einem höfischen Kleid, genannt La Bella an , deren Dargestellte sich nicht identifizieren lassen. Der junge elegante Mann gibt sich lässig, entzieht sich zugleich aber durch seine seitliche Blickwendung. Beide Bildnisse haben in ihrer Schönheit und in ihrer stupenden koloristischen Erscheinung etwas Typenhaftes. Da es sich bei der Dame um dasselbe Modell handelt, das für die Venus von Urbino posiert hat, ist in ihr vielleicht eine Mätresse des Herzogs von Urbino zu sehen. Auch andere weibliche Halbfigurenbilder Tizians sind so idealisiert, dass sie kaum als individuelle Porträts anzusprechen sind. Das berühmteste von ihnen ist die um 1514 entstandene so genannte Flora. Diese als „sensuous half-figure images“ bezeichnete Gruppe wird mit der venezianischen Kurtisanenkultur in Verbindung gebracht, die Pietro Aretino literarisch zelebriert hat. Es ist nicht nur bekannt, dass sich Tizian „Dirnen als Modelle fürs Nackte“ hielt, sondern auch, dass sich venezianische Kurtisanen barbusig porträtieren ließen, um ihre Bildnisse den Liebhabern zu schenken oder sich von ihnen damit zu „Werbezwecken“ beschenken ließen. In der Idealisierung ihrer Erscheinung und in der mythologischen Verkleidung wird ihr Status als „außerhalb der Ordnung der Gesellschaft“ stehende Luxuswesen reflektiert.

Aus den Bildnissen der Spätzeit ragt das Bildnis des Antiquars Jacopo Strada heraus, das aufgrund einer später hinzugefügten Schrifttafel (oben rechts) identifizierbar ist. Es entstand während Stradas Aufenthalt in Venedig in den Jahren 1567 bis 1568. Strada, der aus einer in Mantua ansässigen holländischen Familie stammte, erwarb während der beiden in Venedig verbrachten Jahre einen Teil der Antikensammlung, für die Albrecht V. von 1568 bis 1571 das Münchner Antiquarium errichten ließ, als das früheste für eine Antikensammlung errichtete Museum nördlich der Alpen. Obwohl Tizian von Strada keine gute Meinung hatte, gehört das Bildnis zu seinen attraktivsten Porträts, weil es in einem Interieur verortet und neben Degen und Dolch mit den Attributen von Stradas Aktivität als Antiquar ausgestattet ist. Die reiche Farbigkeit und die Dynamik der diagonal ausgestreckten Arme, mit denen er eine Venus-Statuette hält, suggerieren den Vergleich mit Lottos Bildnis des Andrea Odoni von 1527. In dieser von Jacob Burckhardt als „Porträts mit Accessoires“ bezeichneten Gattung wird die Charakterisierung der Person durch die Gegenstände und das Ambiente präzisiert und intensiviert. Den gegenteiligen Pol der völligen Ausklammerung von Attributen verkörpert das unvollendete Berliner Selbstbildnis, das neben einem zweiten Selbstbildnis im Profil, in dem der Maler um einige Jahre älter erscheint, das einzige erhaltene Selbstporträt Tizians ist. Auffällig ist, dass er hier auf die Berufsinsignien verzichtet hat: Die schwarze Kappe, Pelzschaube und eine schwere Goldkette deuten dagegen den gesellschaftlichen Rang an, den er 1533 durch seine Ernennung zum „conte palatino“ von Karl V. erhalten hatte. Seine Stellung in Venedig als offizieller Maler und Porträtist der Republik, die er seit 1513 innehatte, blieb davon unberührt.

 

zu 10. Tizians Altartafeln