Tizian – der Maler der Maler

Zwischen 1510 (Tod Giorgiones) und 1516 (Tod Giovanni Bellinis) ereignete sich der Aufstieg des jungen Tizian Vecellio, der in Pieve di Cadore geboren worden war und laut Vasari im Alter von 10 Jahren nach Venedig ging, um dort bei Giovanni Bellini die Malerei zu erlernen. Das Geburtsdatum Tizians ist aufgrund der widersprüchlichen Angaben, die der Maler selbst dazu gemacht hat, umstritten. Als wahrscheinlicher Zeitraum gelten heute die Jahre 1488–1490. Demnach wäre er zwanzig Jahre alt gewesen, als ihm 1508 die Freskierung der landseitigen Südfassade des Fondaco dei Tedeschi anvertraut wurde. Die wenigen Fragmente, die sich davon erhalten haben, zeigen deutlich den Einfluss Giorgiones. Das gilt auch für die Fresken mit Wundern des hl. Antonius von Padua, die Tizian 1511 im Auftrag der Scuola del Santo in Padua ausgeführt hat. Wie sehr sein Frühwerk im Banne Giorgiones stand, zeigt sich auch daran, dass bei nicht wenigen Werke bis heute umstritten ist, ob sie von Giorgione oder von Tizian gemalt wurden, oder von beiden gemeinsam.

Vasari, der Tizian erstmals 1545 in Rom begegnete, wohin sich der Venezianer begeben hatte, um für die Farnese einige Werke zu malen, darunter eine Danae für Ottavio Farnese, überliefert Michelangelos Urteil über dieses Gemälde, das er in der Villa del Belvedere besichtigt hatte, wo Tizian während seines ca. halbjährigen Aufenthaltes in Rom logierte. Diese der Nachwelt unter dem Mantel der Autorität des Universalgenies der Renaissance überlieferte Aussage formuliert einen später zum Stereotyp geronnenen Vorwurf an die venezianische Malerei. Obwohl Michelangelo das Gemälde sehr gefiel, bedauerte er es, dass man in Venedig nicht von Anfang an lerne, gut zu zeichnen. Wenn dieser Maler, „der über einen herrlichen Geist und einen anmutigen und lebendigen Stil verfügt“ in gleicher Weise die Zeichnung beherrschen würde wie er das Studium der Natur meistere, dann wäre er nicht zu übertreffen. Tizian wurde zur Schlüsselfigur im Rangstreit zwischen Kolorit und Zeichnung, der eines der dominanten Themen der kunsttheoretischen Debatte des späten 16. Jahrhunderts war. In die Debatte über den Rang Tizians mischten sich bald auch lokalpatriotische Aspekte. Paolo Pino stellte sich noch vor, dass der Maler, in dem sich Michelangelos Zeichnung und Tizians Farbe vereinen würden, der „Gott der Malerei“ wäre. 1557 erklärte dagegen Ludovico Dolce, Tizian stehe der Ruhm des vollendeten Malens zu, und zwar im absoluten Sinne, denn selbst wenn es in der Antike einen Maler gegeben hätte, der ihm gleich gewesen sei, so sei nichts davon erhalten. Er habe die Kunst der Malerei auf eine Stufe mit der Natur gebracht. Denn jede seiner Figuren lebe, bewege sich und ihr Fleisch vibriere.

Erfahrbar und messbar ist die „Lebendigkeit“ in der Malerei Tizians vor allem an der Wiedergabe des Inkarnats in seiner sinnlichen Erscheinung. Darstellungen nackter weiblicher Figuren, für die Bellini noch die Formate von kleinen Kabinettbildern gewählt hatte, werden bei Giorgione und Tizian zu monumentalen Bildern eines von Eros und Sinnlichkeit erfüllten locus amoenus, in der die Figur und die sie umgebende Landschaft eine gleichgestimmte Einheit bilden, die mit den Mitteln der Farbe, der Luftperspektive und des Sfumato erreicht wird. Ausgehend von Giorgione und Tizian, wurde dieses Thema zu einem Symbol der venezianischen Malerei schlechthin. Das berühmteste Beispiel für diese neue Bildgattung, die bald zum exklusiven Repertoire fürstlicher Sammler wurde, ist Giorgiones Ruhende Venus, die zugleich die erste großformatige Darstellung einer liegenden nackten Frau ist. Heute überwiegt die Ansicht, dass Tizian dem unvollendet gebliebenen Bild, das vermutlich eine Hochzeitsallegorie darstellt, den heute nicht mehr sichtbaren Cupido hinzugefügt hat und die Landschaft mit mehreren Motiven angereichert hat. Eine ähnliche, in diesem Fall allerdings rein erotisch zu deutende Pose gab er wenige Jahre später der schlafenden Nymphe im Bacchanal der Andrier, das er 1523/4 für das Camerino delle pitture in Ferrara gemalt hat >L.XIV.7. Das Thema der liegenden nackten Frau wurde zu einem von Tizians Leitthemen, wobei dem Mythos auch manchmal die Rolle des Vorwandes zufiel. Die Venus von Urbino, die 1538 wahrscheinlich als Hochzeitsbild entstand, wurde vom Auftraggeber Guidobaldo della Rovere prosaisch als „donna nuda“bezeichnet. Noch weltlicher wirkt die 1548 für Karl V. gemalte Venus mit Orgelspieler, die sich in ihrer üppigen Fülle auf einem vor einem Garten stehenden Bett ausstreckt und sich mit Amor beschäftigt, während ein Orgelspieler in höfischer Kleidung interessiert und ungeniert auf ihren Schoß blickt. Das von Tizian und seiner Werkstatt mehrfach wiederholte und variierte Bild wird kontrovers gedeutet: entweder als Allegorie auf die inspirierende Kraft der Liebe für die Musik oder als Allegorie auf die Erfahrung der Schönheit durch das Auge und das Gehör.

Auch einige andere Gemälde Tizians geben inhaltliche Rätsel auf. Das bekannteste von ihnen ist das seit dem 18. Jahrhundert als Amor sacro e profano titulierte Bild, das die neuere Kunstgeschichte als Irdische und himmlische Venus gedeutet hat, wobei es jedoch unterschiedliche Ansichten dazu gab, welche der beiden Frauen die himmlische und welche die irdische Liebe darstelle. Entstanden 1514 aus Anlass einer Hochzeit, stellt es eine fast nackte und eine reich gekleidete Frau dar, die an einem reich skulptierten Brunnen einander gegenübersitzen. Amor, der seinen Arm in das Wasser des Brunnes taucht, und andere ikonographische Details erlauben es, das Gemälde in Verbindung mit einem Lobgedicht von Plutarch auf die eheliche Liebe als Hochzeitsallegorie zu deuten, in der sich die himmlische Venus der irdischen Venus zuwendet und so die vollkommene Harmonie und Einheit der Eheleute bewirkt, die von Plutarch verherrlicht wird.

Einer von Tizians wichtigsten Auftraggebern wurde nach Kaiser Karl V. dessen Sohn König Philipp II. von Spanien, mit dem er von 1552 bis zu seinem Tod (1576) in stetigem Briefwechsel stand, der nicht nur über die in diesem Zeitraum für den König geschaffenen Werke unterrichtet, sondern auch Einblick in Tizians wirtschaftliche Verhältnisse und Bedürfnisse gibt. Das 1554 entstandene Gemälde Adonis verlässt Venus ist das bekannteste einer Gruppe von vier Gemälden, deren Themen auf den „Metamorphosen“ des Ovid basieren und die Tizian als „poesie“ (Dichtungen) bezeichnet hat. In Umkehrung des Dictum von Horaz, das Gedicht solle wie ein Bild sein (Ut pictura poȅsis) malt er ein Gedicht. Eine zweite, aus sieben Tafeln bestehende Serie von „fabulae“ nach den „Metamorphosen“ bot Tizian 1568 durch die Vermittlung Jacopo Stradas Kaiser Maximilian II. an, deren Themen wohl identisch mit denen der ersten Serie waren. In der diesbezüglichen Korrespondenz wird betont, dass die Gemälde mehr Figuren enthalten als die Dichtung, auch dies ein Hinweis darauf, dass sich Tizian als malender Dichter verstand.

Tizians vermutlich letztes Bild mythologischen Inhalts ist die unvollendet gebliebene Schindung des Marsyas, ein Gemälde, mit dem sich die Kunstgeschichte in den letzten Jahrzehnten intensiv befasst hat. In der von Ovid beschriebenen Fabel lernt der Satyr Marsyas eine von Athena weggeworfene Flöte so meisterhaft zu spielen, dass er es wagt, Apollo zum Wettstreit herauszufordern, und, nachdem er von diesem besiegt worden ist, zur Strafe für seine Vermessenheit von ihm gehäutet wird. Die Häufigkeit, mit der das Thema in der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts dargestellt wurde, hängt mit der allegorischen Bedeutung zusammen, die dem Sujet innewohnt, da es den unfairen Sieg der „hohen“ Kunst — personifiziert durch Apollo mit der Kithara und dem Gesang — gegenüber der „niedrigen“ Kunst des Naturwesens thematisiert. Tizian visualisiert die Materialität des Häutens mit rein malerischen Mitteln. Das Bild steht damit exemplarisch für seinen späten Stil, den Vasari bei seinem Besuch in Venedig im Jahr 1566 treffend beschrieben hat. Er gestalte „mit grob hingeworfenen Pinselstrichen und Flecken, so daß man sie von nahm nicht zu betrachten vermag, sie aus der Ferne aber perfekt wirken.“Ein von dem Maler Jacopo Palma il Giovane stammender Bericht über die Arbeitsweise des alten Tizian, den Boschini 1674 publiziert hat, liest sich wie eine Beschreibung der Schindung des Marsyas. Mehr und mehr habe Tizian in diesen Jahren nicht mehr mit Pinseln, sondern mit den Fingern gemalt. Boschinis Kommentar dazu lautet: "er hatte guten Grund , so zu arbeiten, denn schließlich wollte er den Höchsten Schöpfer nachahmen, der ebenfalls mit den Händen den menschlichen Körper aus Erde geformt hat.“

 

zu 9. Tizian als Porträtist