Rezension

Hein-Th. Schulze Altcappenberg: (Hg.) Sandro Botticelli. Der Bilderzyklus zu Dantes 'Göttlicher Komödie' (Ausstellungskatalog Kupferstichkabinett, Berlin), London: Royal Academy of Arts 2000,
Buchcover von Sandro Botticelli
rezensiert von Ulrich Pfisterer, Ludwig-Maximilians-Universität München

Das am häufigsten verwendete Substantiv in den knapp 15000 Versen von Dantes 'Göttlicher Komödie' - niedergeschrieben zwischen ca. 1304/07 und 1321 - ist das Wort 'Augen' (occhi). Auf dem Weg des Jenseitswanderers Dante durch Hölle, Fegefeuer und Himmel gewinnen seine Sinnesorgane und insbesondere der Sehsinn immer größere Kräfte, wodurch er letztlich sogar zur Schau Gottes befähigt wird, freilich ohne diese Erfahrung in seiner ansonsten an Bildern überreichen Dichtung mitteilen zu können, da vor dieser Aufgabe die alta fantasia des Menschen versagen muß. Kein Wunder also, daß sich zwischen ca. 1335 und dem späten 15. Jahrhundert eine Vielzahl illuminierter Manuskripte der Comedia erhalten haben, die das Wort durch begleitende Malerei veranschaulichen. Durchgehend illustrierte Abschriften, bei denen für jeden der einhundert Gesänge ein Bild vorgesehen war, finden sich - dem erhaltenen Bestand nach zu schließen - jedoch nur dreißig. Das aufwendigste und kostbarste Exemplar stammt von der Hand Sandro Botticellis, der im Auftrag des Lorenzo di Pierfrancesco de' Medici über den langen Zeitraum von ca. 1480 - 1495 daran arbeitete und schließlich Blätter in ganz unterschiedlichem Vollendungszustand hinterließ: Nur vier weisen eine Farbfassung auf, die meisten präsentieren sich als mehr oder weniger ausgearbeitete Zeichnungen.

Die 92 erhaltenen - von den ursprünglich wohl 102 geplanten - Pergamentblätter, die heute auf Berlin (87 Blätter seit 1882, zwei nur mit Text versehene Blätter gingen jedoch seitdem verloren) und den Vatikan (7 Blätter, seit dem späten 17. Jh. nachweisbar) verteilt sind, waren nun bis 18. Juni 2000 erstmals wieder gemeinsam in einer Ausstellung des Berliner Kupferstichkabinetts zu bewundern, danach werden sie in Rom und London zu sehen sein. Neben einigen Gemälden und Zeichnungen Botticellis ergänzen vor allem drei der bedeutendsten illuminierten Dante-Manuskripte des 15. Jahrhunderts und die drei wichtigsten illustrierten Inkunabeldrucke (1481, 1487, 1491) die Ausstellung: Bei den Handschriften handelt es sich um den ca. 1438/40 von Giovanni di Paolo und einem anonymen Sienesen gemalten Codex Yates Thompson Ms. 36 (London), eine um 1440 von dem sog. 'Meister der Vitae Imperatorum' geschmückte Handschrift (aufgeteilt auf Paris und Imola) und die um 1480 von Guglielmo Girali für Federigo da Montefeltre angefertigte Comedia (Vatikan). Der Vergleich macht die augenfälligste Besonderheit der Botticelli-Illustrationen überdeutlich: Nur bei diesen handelt es sich um ganzseitige Abbildungen, auf deren Rückseite sich der auf dem Kopf stehende Text des vorhergehenden Gesangs befindet. War daher tatsächlich ehemals gedacht, die Blätter in Buchform zusammenzubinden, so hätte man dies an der oberen Blattkante tun müssen. Nur in dieser Anordnung begleitet die Abbildung der zugehörige Text darunter. Anhand der erstmals zwischen 1481 und 1484 mit (zunächst nur zwei) Kupferstich-Illustrationen versehenen, gedruckten Ausgaben der Comedia mit neuem Kommentar von Ch. Landino läßt sich sodann verifizieren, inwieweit die erhaltenen Zeichnungen Botticellis bzw. hypothetisch erschlossene Vorstudien dafür als Vorlage dienten.

Der hervorragend produzierte Ausstellungskatalog, der den bereits vor fünf Jahren erschienenen Band 'Die italienischen Zeichnungen des 14. und 15. Jahrhunderts im Berliner Kupferstichkabinett' komplettiert, erweist sich seinem das Sehen so zentral thematisierenden Objekt als würdig: Alle Blätter Botticellis sind in Farbe ganzseitig reproduziert, der jeweils zweigeteilte Begleittext von H.-Th. Schulze Altcappenberg resümiert zum einen den zugehörigen Gesang der Comedia, zum anderen bietet er eine kunsthistorische Analyse der Illustration. Kurze Essays informieren gut abgewogen zu den wichtigsten Fragenkomplexen und Forschungsmeinungen: A. Dückers präsentiert die Sammlungsgeschichte. H.-Th. Schulze Altcappenberg führt in Aufbau, Datierung, Erzähltechnik und Funktion der Illustrationen ein, rekurrierend auf die technische Analyse der Blätter von D. Oltrogge, R. Fuchs und O. Hahn. D. Dombrowski versucht, die Zeichnungen ins Oeuvre Botticellis einzuordnen. J. Schewski bespricht die Tradition illuminierter Comedia-Handschriften, P. Keller die partielle Abhängigkeit der ersten gedruckten Illustrationen von Botticellis Entwürfen. Die Voraussetzungen für die neuartige Abbildung zu Beginn des Inferno, die eine Gesamtschau des komplizierten Aufbaus der Hölle vermittelt, stellt G. Morello dar. Eine zweite Einzelanalyse widmet A. Kablitz dem Blatt mit der Darstellung der gottgeschaffenen Reliefbilder in Purg. 10. Schließlich will H. Bredekamp aufgrund der Tatsache, daß Vasari in der Vita Botticellis den Dante-Zyklus nicht erwähnt, die Illustrationen als Zeichen politischer Parteinahme für die Nebenlinie des Hauses Medici unter Lorenzo di Pierfrancesco verstehen. Gerade um diese These zu untermauern, die Bredekamp ähnlich auch schon für das Gemälde der Primavera vertreten und heftige Kritik geerntet hatte, hätte es aber zumindest noch eines überblicks zum Ruhm Dantes im 15. Jahrhundert bedurft, bevor man ihn ideologisch der "Guelfischen Partei", die eine Verbindung von Florenz und Frankreich befürwortete, zuschlägt. Wünschenswert gewesen wäre schließlich noch eine eingehendere Charakterisierung des ungeheuer erfolgreichen, 1481 publizierten Volgare-Kommentars von Ch. Landino, den Botticelli bei Verständnisproblemen des Dante-Textes doch sicherlich in irgendeiner Weise konsultierte und dessen Illustrationen ja zumindest anfänglich auf Entwürfe Botticellis zurückgehen.

Allein an einer Stelle scheint der Katalogtext das für die Comedia leitmotivische Sehen nicht bis in die letzte Konsequenz fortzudenken (S. 276 f.). Die Zeichnung zum 28. Gesang des Paradiso zeigt nicht nur Dante und Beatrice im Kristallhimmel oder Primum Mobile vor den neun Engelschören, deren Namen Botticelli im übrigen eigenhändig am Rand vermerkte. Sondern die Schutzengel (angeli), d.h. die Vertreter der niedrigsten Hierarchie, halten je ein in Dantes Text nicht erwähntes Täfelchen empor, von denen nur eines beschriftet ist und zwar mit der Künstlersignatur "Sandro di mariano". Botticelli evoziert hier das Bild von der Seele des Menschen als einer Tafel, in die dessen Leben eingeschrieben und dann vom jeweiligen Schutzengel Gott präsentiert wird. Der Katalog deutet dieses Detail zurecht als "selbstreferentielle Memoria", durch die der Künstler in lang etablierter Tradition Fürbitte für sich und sein Werk einfordert - Demutsformel und stolzes Bekunden künstlerischen Selbstbewußtseins in einem. Mindestens genauso wichtig wie der Schutzengel dürfte für Botticelli gewesen sein, daß Dante im Kristallhimmel erstmals Gott direkt schaut, das Sehen hier seine höchste, die menschliche Erfahrung und das Erinnerungsvermögen übersteigende und sich damit selbst aufhebende Stufe erreicht. Der Florentiner Gelehrtenkreis um Lorenzo de Medici hatte nur wenige Jahre zuvor die antike Vorstellung wieder prominent ins Gedächtnis gerufen, laut der Phidias durch eine solche entrückende 'Schau des Göttlichen' zu den Ideen für seine übermenschlich schönen Götterbilder - insbesondere seinen Olympischen Zeus - gelangt sei. Aber nicht als 'neuer Phidias' scheint sich Botticelli hier zu präsentieren. Vielmehr dürfte er im - weithin rezipierten - Sinne Ciceros (Orator 7-10) darauf anspielen, daß man sich trotz der Perfektion der Phidiasischen Götterbilder im Geiste (und aller Sinneserfahrung unzugänglich) immer etwas noch Schöneres vorstellen könne. Das Göttliche entzieht sich der Darstellung und bleibt Idee. Indem Botticelli also just an der Stelle signiert, an der es zum ersten direkten Anblick Gottes kommt, fordert er den Betrachter auch zur Reflexion über die Bedingungen und Grenzen der Bildkünste und seiner eigenen künstlerischen Imagination auf. Vor diesem Hintergrund wird nicht mehr als Zufall erscheinen, daß auf der weitgehend ausgearbeiteten Zeichnung ausgerechnet die Lichterscheinung Gottes ganz ausgespart bleibt. Die Illustration zu Par. 28 wäre damit nicht nur als Hinweis auf Botticellis Religiosität zu verstehen, sondern auch rares Zeugnis seiner aus dem christlich umgedeuteten Florentiner Neuplatonismus entwickelten Vorstellungen von Kunst.


Ulrich Pfisterer

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Ulrich Pfisterer: Rezension von: Hein-Th. Schulze Altcappenberg: (Hg.) Sandro Botticelli. Der Bilderzyklus zu Dantes 'Göttlicher Komödie' (Ausstellungskatalog Kupferstichkabinett, Berlin), London: Royal Academy of Arts 2000
in: KUNSTFORM 1 (2000), Nr. 1,

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Ulrich Pfisterer
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Jan Mohr