Michelangelos Schlacht von Cascina
Michelangelo benutzte für die Ausarbeitung seines Kartons einen Saal im nicht erhaltenen Krankenhaus und Kloster von S. Onofrio. Über die Einzelheiten seiner Arbeit sind sehr viel weniger Dokumente erhalten als für Leonardo. Dies erklärt sich daraus, dass er die vermutlich in Freskotechnik geplante Ausmalung niemals begonnen hat. Aus den Zahlungen geht hervor, dass die Papierbögen für den Karton im Dezember 1504 zusammengeleimt wurden und dass der Künstler bis Ende Februar 1505 an ihm malte, bevor er sich nach Rom begab. Nach seiner Rückkehr im April 1506 vollendete er den Karton, der anschließend in die Sala del Papa in S. Maria Novella gebracht wurde. Es herrscht Einigkeit darüber, dass er nicht mehr dazu kam, die Übertragung des Kartons auf die Wand zu beginnen, obwohl er im Frühjahr 1508 für ca. zwei Monate in Florenz weilte, bevor er nach Rom ging, um die Sixtinische Decke zu freskieren >L.XII.2. Der mit Michelangelo befreundete Piero Soderini hoffte aber weiterhin, dass er den Auftrag nach deren Vollendung noch erfüllen werde. Nach Vasari, der die gesamte Komposition beschrieben hat, erregte Michelangelos Karton unter den Künstlern großes Aufsehen. Als er später in den großen Saal des Palazzo Medici gebracht worden sei, hätten ihn dort alle namhaften Florentiner Künstler studiert, bis er durch Baccio Bandinelli beschädigt und zerschnitten worden sei. Vasari erwähnt auch die erhaltene, in Grisailletechnik gemalte Kopie des Kartons, die Aristotile da Sangallo 1542 angefertigt hat, die aber nur einen Teil der Komposition überliefert. Wahrscheinlich ist die hier dargestellte Szene mit den Badenden als linker äußerer Teil der geplanten Darstellung anzusehen, die Vasari zufolge Trommler, laufende Soldaten und kämpfende Reiter enthalten sollte.
In der Ansammlung nackter muskulöser Körper in unterschiedlichen Stellungen ruft die Komposition Michelangelos sein ca. zehn Jahre früher entstandenes Relief der sogenannten Kentaurenschlacht in Erinnerung. Tatsächlich wirkt die Szene der Badenden wie ein in die Fläche übersetztes Relief, in dem der Bildraum aus den sich in raumgreifenden Torsionen bewegenden Körpern entsteht. Das Getümmel der sich windenden und aufrichtenden Körper in engster Berührung ist im Sinne Albertis als eine „compositione dei corpi“ zu verstehen, in deren Bewältigung der Künstler sein Ingenium und seine Bravur offenbart. Kommt es in Leonardos Kampf um die Standarte zum dramatischen Zusammenprall heftig bewegter Körper, so dominiert in Michelangelos Komposition die Entfaltung der Einzelfiguren, in denen viele Varianten des individuellen körperlichen Ausdrucks gezeigt werden. Die Körperstellungen und die Gesten, die alle narrativen Elemente ausblenden, artikulieren die verschiedenen Seelenzustände der durch den Alarm in Panik versetzten Männer und erinnern darin an Pollaiolos berühmten Kupferstich der Fechtenden Männervon ca. 1470. In einer die Tradition der Florentiner Künstlerkonkurrenz fortsetzenden Konfrontation mit dem 20 Jahre älteren Leonardo wagte Michelangelo einen radikalen Gegenentwurf: der auf wenige Figuren reduzierten und auf das Ereignis fokussierten Aktion Leonardos stellt er Figuren in komplizierten Haltungen gegenüber, die sich zu einem formal ausgeklügelten Gefüge verketten und ein abstraktes Gebilde ergeben. Ausgehend von der Schulung durch antike Sarkophage mit Gigantenkämpfen definiert er die kompositionelle Ordnung durch das Prinzip der Massenregie und der Mannigfaltigkeit (varietà) und verzichtet auf die üblichen Komponenten von Bildstrukturen, wie Reihung, Symmetrie und Wiederholung. Die Herausforderung, der sich die jüngere Malergeneration zu stellen hatte, lag in der Verbindung dieser varietà mit einer dramatischen Handlung (azione). Diese Aufgabe fiel Raffael zu, dem es wohl auch dank seiner genauen Kenntnis der beiden so unterschiedlichen Konzeptionen Leonardos und Michelangelos in der Konstantinsschlacht >L.XIII.8 gelungen ist, Massenregie und dramatische Zuspitzung souverän zu verbinden.