Rezension
Wer erinnert sich nicht an den 15./16. April 2019, als die Bilder der in Flammen stehenden Pariser Kathedrale Notre-Dame live in allen Medien zu sehen waren? Ähnlich muss es 1823 in Rom ausgesehen haben, wo ein Großbrand, ebenfalls vom Dachstuhl ausgehend, die Basilika S. Paolo fuori le mura erfasst hatte - nur dass die Löscheinsätze den Einsturz der Kirche damals nicht verhindern konnten. Zur Geschichte St. Pauls liegen bereits einschlägige Publikationen u.a. von Nicola Maria Nicolai, Ildefonso Schuster, Richard Krautheimer und Marina Docci vor.
Der Kunsthistoriker Nicola Camerlenghi präsentiert nun die Ergebnisse seiner fünfzehnjährigen Forschungsarbeit und spannt in einer longue-durée-Studie zeitlich den Bogen vom einfachen Monument auf dem Grab des Apostels Paulus über die Errichtung der Basilika und ihr wechselvolles Auf und Ab im Laufe der Jahrhunderte bis zum verheerenden Feuer, das dem Bau der heutigen Kirche vorausging. Ihm geht es aber nicht allein darum, eine dichtere Geschichte zu schreiben, das bisher Bekannte durch zahlreiche neue Details zu ergänzen und Fehlannahmen zu korrigieren. Vielmehr wendet er sich in Form einer "diachronen, kulturellen Biografie" (19) dezidiert von dem in der Architekturgeschichte geläufigen Ansatz ab, besonders die Anfangsphase eines Bauwerks in den Blick zu nehmen. Ein Gebäude wird somit nicht mehr als "Produkt", sondern als "Prozess" verstanden. Entsprechend liegt der Fokus auf dem Wechselspiel zwischen Mensch und Gebäude im zeitlichen Längsschnitt, das am Beispiel der Paulsbasilika anhand der rekonstruierbaren Transformationen der architektonischen Strukturen und Innenausstattung analysiert und historisch einbettet wird.
Der Autor fragt, in welcher Gestalt und unter welchen veränderten Voraussetzungen die Kirche trotz ihrer Lage in einem sumpfigen Gebiet außerhalb Roms, trotz Überschwemmungen, Erdbeben, Bränden, Blitzschlägen und kriegerischen Zerstörungen jahrhundertelang immer wieder von solcher Relevanz blieb, dass ihr Fortbestand nicht gefährdet war. Camerlenghis Ansatz ist angesichts des fast 2000 Jahre umfassenden Untersuchungszeitraums, der Lückenhaftigkeit der Quellen und der Tatsache, dass von den ursprünglichen baulichen Strukturen kaum mehr etwas vorhanden ist, mit großen Herausforderungen verbunden. Auf der Grundlage von verschiedensten Textzeugen einschließlich Dokumenten zum Abriss und Wiederaufbau nach 1823, Grabungsbefunden und ca. 1400 bildlichen Quellen, aber auch durch Vergleiche mit anderen (Kirchen-)Bauten in und außerhalb Roms wird auf das Aussehen, die Funktionen und Identität der Basilika eingegangen, wobei kunst- und architekturgeschichtliche Fragen eng mit politik-, sozial-, religions-, kultur-, erinnerungs- und institutionsgeschichtlichen Aspekten verknüpft sind.
"Momente gesteigerten Interesses", die auf sich verändernden Praktiken beruhten und vom Eingebundensein St. Pauls in ein komplexes "System von Autorität und Macht" zeugen (3), bilden das Gerüst für die chronologisch angeordneten Kapitel des Buches. Sie sind flüssig geschrieben, klar strukturiert, eng miteinander verzahnt und so facettenreich, dass ihr Inhalt hier nur ganz grob angedeutet werden kann.
Kapitel 1 behandelt die Zeit von ca. 67 bis 386, geht auf den Pauluskult in Rom ein und zeichnet die bauliche Entwicklung vom schlichten Grabmonument bis zur Errichtung der vergleichsweise kleinen konstantinischen Basilika auf dem Gelände der 2,5 km außerhalb der Stadtmauern an der Via Ostiense gelegenen antiken Nekropole nach. Als Ort für Messen am Apostelgrab, Totenmahle und Grablegen wohlhabender Römer hatte sie zunächst polyvalente Funktionen.
Im zweiten Kapitel wird der Ausbau zur größten römischen Basilika durch die Theodosianische Dynastie thematisiert, die ein kollaboratives Werk des hohen Klerus, des römischen Senats und des Kaisers war. Während die damalige Zeit noch unter dem Zeichen der engen Verbindung von Peters- und Paulskult (concordia apostolorum) stand, sollte ab Mitte des 5. Jahrhunderts der Petrusprimat an Bedeutung gewinnen - ein Aspekt, der im dritten Kapitel neben den verschiedenen Umbauten zwischen 410 und 700 thematisiert wird. In diese Phase, die u.a. auch durch wachsende Pilgerzahlen charakterisiert war, fielen die Umfunktionierung des Apostelgrabmals in einen Altar und der Bau eines Presbyteriums. Unter dem Eindruck der langobardischen und muslimischen Kriegszüge kam es um die Mitte des 9. Jahrhunderts dann zum Bau der die Kirche und Klostergebäude mit Mauern schützenden Johannipolis. Sie war Bestandteil eines Netzes von Befestigungsanlagen rund um Rom. Hierauf, auf die zunehmende Bedeutung der Mönche und auf die Umbauten infolge neuer liturgischer Bedürfnisse geht Kapitel 4 ein.
In die im fünften Kapitel betrachteten Jahre 1050-1423 fallen zunächst während des sogenannten Investiturstreits die Erneuerung des Klosters und bauliche Veränderungen in der Kirche, wodurch "St. Paul's was among the principal prototypes for reformist architectual across central Italy" (146). Weitere Transformationen der Basilika hingen mit den großen Pilgerströmen in den Jubeljahren, mit der zentralen Rolle des von Martin V. eingesetzten Abtes Bartholomäus sowie mit dem (sich bis zum 18. Jahrhundert haltenden) Glauben zusammen, wonach ein Teil der Petrusreliquien auch in St. Paul aufbewahrt sei. Das Avignoneser Exil der Päpste markierte schließlich das Ende der "goldenen Zeit".
Die in Kapitel 6 behandelten Jahre der "Wiedergeburt" und Modernisierung 1423-1655 lassen die Spuren der Gegenreformation im Gebäude deutlich werden, aber auch veränderte Konstellationen, die eine Umsetzung von Plänen zur Errichtung zweier Kapellen oder von Francesco Borrominis Ideen für einen tiefgreifenden Kirchenumbau verhinderten. Obgleich die Päpste auch in der Folgezeit an Finanzkraft und politischer Bedeutung verloren, blieb Rom weiterhin ein spirituelles Zentrum.
Kapitel 7 zeigt, dass S. Paolo fuori le mura als ein wichtiger Ort der Reliquienverehrung fortdauerte und weiterhin Geldgeber anzuziehen vermochte. Vermehrt wurde die Kirche nun aber auch als exemplum für Roms frühchristliche Vergangenheit angesehen, sodass Künstler und Intellektuelle nun erstmals ihre historische Identität wahrzunehmen begannen.
Abschließend wird im Epilog auf die Diskussionen im Zusammenhang mit der Realisierung des päpstlichen Auftrags eingegangen, nach dem Brand von 1823 die "originale" Kirche wiederzuerrichten. Es wird deutlich, dass es damals mangels Ausgrabungen und Detailwissens im Ermessen der Betrachter lag, was als original-konstantinisch galt und neu aufgebaut werden sollte. Das Resultat war eine "revival church" (262). Sie markiert das letzte große Bauunternehmen der Päpste in Rom.
Die von Camerlenghi herausgearbeiteten "Schlüsselmomente" strukturieren aber nicht nur das Buch, sondern bilden gleichzeitig den Ausgangspunkt für aufwändige, seit 2010 in Teamarbeit erstellte 2- und 3-D-Modelle. Sie fungieren gewissermaßen als "surrogate for the absent basilica but transcend their individual sources to become a visual summa of our knowledge about the building" (18) und stehen auch im Internet - neben 360°-Panorama-Ansichten und "interactive walkthroughs" - frei zur Verfügung. [1] Gerade weil aus der Zeit vor der Mitte des 16. Jahrhunderts nur schematische Darstellungen existieren, macht der Autor die methodischen Schwierigkeiten bei der Analyse der "virtuellen" Basilika konsequent transparent, sodass an jeder Stelle deutlich wird, welche Quelleninformationen und Darstellungen zugrunde gelegt wurden und wo die Möglichkeiten und Grenzen solcher computergestützten Rekonstruktionen liegen. In dieser Hinsicht besonders instruktiv ist der Appendix A, wo die Grundlagen für die digitalen Modelle eingehend erklärt werden. Die einzelnen Grundrisse und dreidimensionalen Ansichten sind schon für sich genommen beeindruckend, denn sie vermitteln aus unterschiedlichen Perspektiven eine plastische Vorstellung über die diversen Bauphasen und im Fall des Theodosianischen Querhauses sogar über die Lichtverhältnisse.
Der eigentliche Reiz des Buches steckt indessen in der Kombination der Computermodelle mit einer denkbar breiten historischen Kontextualisierung. Auf diese Weise wird St. Paul zu einem Brennglas für allgemeine gesellschaftliche Veränderungen und die "Biografie" der Paulsbasilika zu einem methodischen Referenzwerk. Kunst- und architekturhistorische Experten kommen bei der Lektüre ebenso auf ihre Kosten wie Kenner der römischen (Kirchen-)Geschichte und allgemein historisch Interessierte. Camerlenghis Buch ist inhaltlich wie ästhetisch ein Lesevergnügen.
Anmerkung:
[1] Online verfügbar unter: https://Dartgo.org/virtualbasilica.
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