Rezension
Die Stuttgarter Apokalypse-Tafeln vom Beginn des Trecento sind einzigartig: Die außergewöhnliche Farbgestaltung mit hellen Szenen-Inseln auf ultramarinem Hintergrund, der Eindruck von Unstrukturiertheit, welche die Lesbarkeit in Registern über die Tafeln hinweg verunklärt, sowie die physische Einbindung und genaue Funktion der Tafeln geben Rätsel auf; die hohe Qualität der Miniaturmalereien, die Faszination des Motivs sowie der Erhaltungszustand lassen den Betrachter staunen. Dass sich dennoch in den letzten Jahrzehnten nur einzelne Beiträge in Sammel- und Überblickswerken mit den Tafeln beschäftigt haben, verwundert und steigert zudem die Erwartungen, die an eine neue monografische Bearbeitung gestellt werden.
Der vorliegende Band hat einen doppelten Anspruch, da er das Produkt eines interdisziplinären Forschungsprojektes ist und gleichzeitig ein Schmuckstück der Sammlung der Stuttgarter Staatsgalerie katalogartig für ein interessiertes Laienpublikum präsentiert.
Optisch besticht der querformatige Band durch eine aufklappbare Doppelseite mit beiden Tafeln vis-à-vis (Abb. 1 und 2) und eine Fülle von qualitativ sehr hochwertigen Detailaufnahmen, oftmals als ganzseitige Farbabbildungen angelegt. Daneben entstanden auch Röntgenaufnahmen und Infrarotreflektogramme für das Projekt, die zwar argumentativ herangezogen werden, jedoch im Detail kaum abgebildet sind. Auf der Webseite der Staatsgalerie Stuttgart sind beide Tafeln in der Kategorie "digitale Sammlung" nur in niedriger Auflösung, Röntgen- und IRR-Aufnahmen gar nicht zu finden. Die akademische Leserschaft würde ein den Band sekundierendes digitales Angebot sicherlich zu schätzen wissen.
Der Band gliedert sich in zwei Teile: Annette Hojer (Kuratorin für italienische Malerei der Staatsgalerie Stuttgart) beschäftigt sich ausführlich mit Inhalt, Ikonografie und (Funktions-)Kontext der Apokalypse-Tafeln (8-59). Darauf folgt ein Beitrag zu den Tafeln und der Maltechnik des Trecento, den Anne Künzig (Restauratorin der Staatsgalerie), Christoph Krekel und Julia Schultz (Akademie der bildenden Künste, Stuttgart) gemeinsam verfasst haben (60-73).
Annette Hojer bespricht zu Beginn knapp Forschungsstand und Provenienz des Werks, um dann die Offenbarung des Johannes chronologisch und Szene für Szene anhand der Tafeln nachzuvollziehen. Die in der Forschung streitbare Identifikation einzelner Szenen und eine neue Zählung (nun in 50 Sinneinheiten) können als ein wichtiger Beitrag des Projekts zur Apokalypse-Forschung angesehen werden, der durch mehr Literaturverweise noch besser in der aktuellen Diskussion hätte verankert werden können. In der Einschätzung der Szenen sind zudem ein paar Stolpersteine enthalten (so die Bewertung der Verbildlichung von Gottes Stimme in Offenbarung 1,10 als Posaunenengel als einzigartige Bilderfindung (18), die jedoch bereits in den karolingischen Apokalypsen [Trier, Mainzer Fragment] bekannt ist).
Hojer bekräftigt die Zuschreibung an einen neapolitanischen Meister und stellt die Stuttgarter Tafeln in einen ikonografischen Kontext mit der diese rezipierenden Buchmalerei (Hamilton-Bibel, Anjou-Bibel). Dem unbekannten Maler wird eine Vertrautheit mit, ja eine "gezielte Orientierung" (37) an Fresken und Tafelmalerei von Giotto, Simone Martini und Pietro Cavallini zugewiesen. Dabei fußen diese wichtigen Beobachtungen primär auf dem Vergleich von Detail- und Einzelszenen - ein legitimes Vorgehen, das im Folgenden auch bei der Kontextualisierung mit weiteren Apokalypse-Darstellungen Anwendung findet.
Die "Thronvision" wird verbunden mit der zeitgenössischen Debatte um die visio beatifica, in der Robert von Anjou selbst mit dem Verfassen von Traktaten und Predigten aktiv gegen die päpstliche Auffassung, dass sogar Heilige erst nach dem Jüngsten Gericht Gott in seiner ganzen Herrlichkeit schauen könnten, Stellung bezog. In diesem Sinne stellt Hojer mit Verweis auf die Forschungen von Annette Creutzburg [1] die Thronvision auf den Tafeln als programmatisch aufgeladen dar und wertet sie somit als Beleg der Auftraggeberschaft und sogar der geistigen Autorenschaft Roberts von Anjou (51), was sie zu einer Datierung um 1332/34 führt. Die von Hojer geprüften, unpublizierten 13 Predigten Roberts zur Apokalypse bringen leider keine weiteren Erkenntnisse zu den Stuttgarter Tafeln - sie zeigen aber nochmals eindrücklich, die Forschungen von Rosemary Muir-Wright [2] unterstützend, Roberts Affinität zum Thema auf. Für zukünftige Forschungen sind diese Predigten dennoch nicht abzutun, wenn man beispielsweise den Bezügen zur Verwendung des Apokalypse-Themas im Kontext von Frömmigkeitspraktiken nachgehen würde. Dieser Thematik, der ob der Preziosität und des kleinen Formats der Tafeln nicht fern liegt, wird im vorliegenden Band leider kaum zum Thema gemacht.
Die Charakterisierung der Malweise als Camaieu-Malerei (an Camee-Schnitt erinnernd) weckt Assoziationen zu Elfenbein-, Email-, Alabaster- oder Goldschmiedearbeiten und lässt Hojer eine Funktion der Tafeln als Seitenwangen einer Truhe zur Aufbewahrung von Schriftwerken vorschlagen. Die als Porphyrimitat gestalteten Rückseiten der Tafeln werden in diese Überlegungen allerdings nicht mit einbezogen. Mutmaßliche Umgebung einer solchen Büchertruhe könnte Hojer zufolge ein privater Raum am Hofe Roberts sein, vielleicht direkt zur Aufbewahrung seiner apokalyptischen Schriften gedacht. Neben dieser interessanten These sind jedoch auch die kurz referierten, bisherigen Vorschläge zur Funktion der Tafeln als Teile eines Reliquienschreins (wobei Schmalseiten und "Dach" ein hagiografisches Programm tragen könnten) oder eines Aufbewahrungs- oder Präsentationsmöbels im liturgischen Kontext nicht entkräftet. Weitere Einbindungen wären zudem in einem frömmigkeitspraktischen oder moralisch-didaktischen Kontext denkbar.
In dem Beitrag zur Maltechnik der Stuttgarter Tafeln werden die Befunde in direkten Bezug zu Cennino Cenninis Libro dell'arte gesetzt, um eine vergleichende Diskussion der Ergebnisse zu ermöglichen. Von der Herstellung und der Grundierung über die Anlage der Komposition bis zu den Farbmitteln werden die Tafeln unter Einbezug von Mikroskop- und Röntgenaufnahmen sowie Infrarotreflektogrammen systematisch untersucht und liefern spannende Erkenntnisse: So konnten überraschenderweise keine Unterzeichnungen nachgewiesen werden, doch finden sich in der Grundierung der Tafel zwei horizontale Ritzlinien, an die sich die Komposition aber nicht konsequent hält. Außerdem werden originale Überarbeitungen von kleineren Partien der Tafeln offenbar. Der ursprüngliche Gesamteindruck von ehemals tiefblauem Grund mit leuchtenden, lasierten Metallauflagen und Farben wird von dem Autorentrio sehr gut rekonstruiert. Dem Ultramarin als kostspieliger Grundfarbe und als die Vision assoziierender "Bedeutungsebene" (72) der Apokalypse gilt sinnfällig der letzte Abschnitt des Bandes.
Insgesamt bietet die Publikation einen sehr guten Überblick über die wichtigsten Fragestellungen zu den Stuttgarter Apokalypse-Tafeln, kann jedoch - aufgrund seines heterogenen Zielpublikums? - zum Teil wenig in die Tiefe gehen und lässt nur aufscheinen, was bei einer ausführlicheren Publikation noch möglich gewesen wäre. Hier ist vor allem an einige Beiträge des Studientags, der 2018 in Stuttgart zu den Apokalypse-Tafeln stattfand [3], zu denken. Die technischen Untersuchungsergebnisse wie die äußerst qualitätvollen Detailaufnahmen sind eine Bereicherung - wecken aber gleichzeitig den Wunsch nach einer digitalen Bereitstellung dieses faszinierenden Bildmaterials.
Anmerkungen:
[1] Anette Creutzburg: "...et vident divinam essentiam visione intuitiva et etiam faciali": zur Reflexion der Kontroverse um die "visio beatifica" im Bildprogramm der Stuttgarter Apokalypsetafeln, in: Buchkunst im Mittelalter und Kunst der Gegenwart. Scrinium Kilonense. Festschrift für Ulrich Kuder, hgg. von Hans-Walter Stork / Babette Tewes, Nordhausen 2008, 55-88.
[2] Rosemary Muir-Wright: Living in the Final Countdown: the Angevin Apocalypse Panels in Stuttgart, in: Prophecy, Apocalypse and the Day of Doom: Proceedings of the 2000 Harlaxton Symposium, ed. by Nigel J. Morgan, Donington 2004, 261-276.
[3] Die Stuttgarter Apokalypse-Tafeln, Staatsgalerie Stuttgart, 20. April 2018.
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