Rezension

Tomas Macsotay / Johannes Myssok: (Hgg.) MORCEAUX. Die bildhauerischen Aufnahmestücke europäischer Kunstakademien im 18. und 19. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 228 S., ISBN 978-3-412-50169-3, 45.00 EUR
Buchcover von MORCEAUX
rezensiert von Julia Kloss-Weber, Institut für Kunstgeschichte, Universität Hamburg

Skulptur, insbesondere diejenige der Vormoderne, steht in der kunsthistorischen Aufmerksamkeit noch immer weit hinter der Malerei zurück. Was vor allem fehlt, sind Untersuchungen zu übergreifenden Themenkomplexen, die zentrale Entwicklungen über einen längeren Zeitraum und jenseits nationaler Grenzen in den Blick nehmen. Genau dies leistet der von Tomas Macsotay und Johannes Myssok herausgegebene Sammelband über bildhauerische Aufnahmestücke, der aus einer im Mai 2012 an der Kunstakademie Düsseldorf abgehaltenen Tagung hervorgegangen ist. Es liegt in der Natur des Gegenstandes, dass hierbei nicht nur zentrale Kapitel der Geschichte europäischer Kunstakademien mit Blick auf die Skulptur aufgearbeitet, Fragen der Bildhauerausbildung sowie das von Land zu Land unterschiedliche Verhältnis von Akademien, Gilden und Zünften diskutiert werden. Zugleich zeichnen sich die markantesten Stränge der formalen, stilistischen, inhaltlichen und ästhetischen Entwicklungen plastischer Kunst vom späten 17. bis ins 19. Jahrhundert ab. Wie die insgesamt elf Aufsätze zeigen, ist die Geschichte der Bildhaueraufnahmestücke europäischer Akademien darüber hinaus als eigene Gattungsgeschichte zu verstehen, die wichtige Weichen für die Herausbildung einer skulpturalen Moderne stellte. Dabei geht es im Kern auch um die Frage des Kunstbegriffs, um seine Normierbarkeit und um das stete Abarbeiten an und dem Neuformulieren von Kriterien künstlerischer Qualität.

Dass der Schwerpunkt berechtigterweise auf Frankreich liegt, kann gerade durch den Vergleich mit Antwerpen, Rom, Madrid und schließlich vor allem London als weiteren europäischen Bildhauerzentren plausibilisiert werden: Nirgendwo sonst war die staatliche Akademie derart systematisch strukturiert und organisiert, konnte sie ein vergleichbares Monopol ausbilden und kam eine auch nur annähernd umfangreiche Sammlung an bildhauerischen Aufnahme- respektive Bravourstücken zusammen wie hier. So fehlte beispielsweise in den südlichen Niederlanden ein Hof als politisches Rückgrat der bereits 1663 gegründeten Akademie, sodass diese für die Bildhauer nicht - wie in Paris - zu einem nahezu konkurrenzlosen Forum ihrer künstlerischen Aspirationen avancierte, sondern stattdessen die Lukasgilde das ganze Ancien Régime über eine mächtige Alternative blieb (Lock, 101). In Rom hingegen beschnitt im 18. Jahrhundert trotz der ausgeprägten Orientierung an Paris der private, von Serenella Rolfi Ožvald als "Grand Tour Industrie" bezeichnete Kunstmarkt Macht und Einfluss der Academia di San Luca drastisch (109).

Was beim Lesen des Buches besonders erfrischt, ist der Umstand, dass neben überblicksartig angelegten Artikeln konzentrierte Einzelanalysen stehen. Sie zeigen, dass sich gerade unter diesen Qualifikationsstücken herausragende Werke befinden, die es verdienen, als Meilensteine der europäischen Skulpturgeschichte bezeichnet zu werden. Kristina Dolatas Aufsatz zu Étienne-Maurice Falconets Milon von Kroton belegt das in einer überaus intensiven, in beeindruckender sprachlicher Präzision formulierten Autopsie des skulpturalen Einzelobjektes. Die Autorin versteht es außerdem, ihre Beobachtungen mit den theoretischen Schriften Falconets kurzzuschließen, und kann so in Abgrenzung zu vorangegangenen Analysen [1] eine mitunter an der Grenze zum Hässlichen spielende neue Form der Naturnähe als zentralen Faktor von Falconets Skulpturverständnis herausarbeiten. Damit unterstreicht Dolata auch, dass sich die führenden Bildhauer mit ihren morceaux de réception mitnichten in einem rein affirmativen Verhältnis zum jeweils vorherrschenden akademisch-theoretischen Diskurs bewegten, sondern die Aufnahmeverfahren nutzten, um die Maßstäbe künstlerischer Exzellenz immer wieder neu auszuhandeln.

Genau darin besteht, wie die Herausgeber betonen (23), eines ihrer wichtigsten Anliegen, nämlich die traditionelle Konnotation akademischer Kunst als konservativ, in restriktiver Weise normgebunden und antiinnovativ aufzubrechen. Dies gelingt in einer die einzelnen Beiträge trotz ihrer thematischen Diversität verbindenden Argumentationslinie: Als an der Wende zum 18. Jahrhundert die französischen Bildhauer dazu übergingen, statt Reliefs rundplastische Skulpturen von circa einem Drittel Lebensgröße als Aufnahmestücke bei der königlichen Akademie einzureichen, entstand nicht nur dem Format nach (hier wäre es ausgesprochen wünschenswert gewesen, dass die Bildunterschriften Maßangaben umfassten) eine neue, von den Anforderungen traditioneller funktionaler Kontexte unabhängige Gattung. Macsotay bezeichnet diese morceaux insofern als "hybrid", als sie die differenzierten Oberflächenqualitäten und damit verbunden die nahsichtige Rezeption kleinformatiger Sammlerstücke mit theoretisch fundierten Anforderungen an akademische Künstler kombinierten. Diese bestanden darin, die physiologisch korrekte Wiedergabe des (männlichen) Aktes und die expression des passions ebenso zu beherrschen wie die sinnfällige skulpturale Adaption eines literarischen Prätextes (38). Ursula Ströbele spricht mit Bezug auf den letztgenannten Aspekt in ihrem Beitrag zu den französischen Aufnahmestücken in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sogar von "skulpturalen Historien" (56). Und Martin Myrone stellt in seiner Auseinandersetzung mit Thomas Banks Falling Titan die These auf, in diesem Fall habe gerade die in England so spät gegründete Akademie dem Bildhauer eine autonome, von den Zwängen des Kunstmarkts freie Sphäre geboten, um ein ganzes "set of modern (even modernist) values" (169) zu realisieren. Vor allem die Pointe, dass ein solcher akademischer Rückzugsort künstlerischer Idealität nur vor dem Hintergrund jener hier zurückgewiesenen ökonomischen Repressalien sein Profil gewinnen konnte und der Titan somit gerade in der bewussten Abgrenzung ein Produkt ebendieses starken freien Marktes geblieben ist, macht Myrons Argumentation so schlüssig. Schließlich gelingt es im letzten Artikel des Bandes Aline Magnien, die morceaux des 18. Jahrhunderts als eigenständige, singuläre Werke nicht nur als Vorläufer der Salonskulptur auszumachen, sondern auch eine zunächst nicht zu vermutende Verbindung zum Fragment als Inbegriff skulpturaler Modernität herzustellen: Beide galten als eine Verdichtung skulpturaler Perfektion - hier in Form des Meisterwerks, dort in Gestalt des mit klassischen Ganzheitsvorstellungen brechenden, diese in seiner Bedeutung und Vollendung übertreffenden Teils.

Der Band kann das Thema der bildhauerischen Aufnahmestücke selbstverständlich nicht erschöpfend behandeln. Aber er kartografiert als ein äußerst gelungenes Grundlagenwerk den Problem- und Fragenhorizont für weitere Forschungen. Dass man am Ende der Lektüre mehr Fragen im Kopf hat als Antworten, spricht nicht gegen, sondern dezidiert für die Qualität dieser Publikation.


Anmerkung:

[1] Vgl. Ulrike Müller-Hofstede: Der 'Milon von Kroton' von Falconet. Furor im Jugendwerk des Bildhauers, in: Pygmalions Aufklärung, hgg. v. Roland Kanz / Hans Körner, München 2006, 146-164.


Julia Kloss-Weber

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Empfohlene Zitierweise:

Julia Kloss-Weber: Rezension von: Tomas Macsotay / Johannes Myssok: (Hgg.) MORCEAUX. Die bildhauerischen Aufnahmestücke europäischer Kunstakademien im 18. und 19. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
in: KUNSTFORM 18 (2017), Nr. 7,

Rezension von:

Julia Kloss-Weber
Institut für Kunstgeschichte, Universität Hamburg

Redaktionelle Betreuung:

Marlen Schneider