Rezension
Mittelalterliche Weihrauchfässer aus Bronze und Messing stellen in vielerlei Hinsicht ein schwer zu bewältigendes Thema dar. Nicht nur hat sich aufgrund ihrer Eigenschaft als liturgische Objekte der Kirchen eine kaum zu bändigende Quantität erhalten, auch sind sie in ihren technischen, formalen oder ikonografischen Beschaffenheiten und Ansprüchen recht heterogen. Somit reicht das heute erhaltene Spektrum von berühmten Solitären wie dem sogenannten Gozbert-Rauchfass im Trierer Domschatz (Ende des 12. Jahrhunderts) über massenhaft in Italien hergestellte Werke bis hin zu mittelalterlichen Kopien norddeutscher Objekte in Skandinavien. Zu den erschwerenden Voraussetzungen einer ganzheitlichen Annäherung an die Gattung gehört zudem eine Vielzahl an mit zu berücksichtigenden, da aussagekräftigen Aspekten wie die Materialikonologie, die Untersuchung der Formen in Bezug auf die Verwendung oder die sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Bedingungen, welche eine Massenherstellung beförderten und den weitreichenden Handel der Geräte ermöglichten.
Hiltrud Westermann-Angerhausen stellt sich nicht nur jener Aufgabe, sondern leistet mit der 608-seitigen Publikation zu den mittelalterlichen Weihrauchfässern - um das Fazit vorwegzunehmen - bewundernswerte Grundlagenforschung. In einem umfassenden Katalogteil beleuchtet sie annähernd eintausend, teilweise bisher unpublizierte Werke und formuliert aufgrund dieser breiten Objektbasis induktive Analysen zu mehreren Themenfeldern, die zu einem allgemeinen Verständnis der Werke beitragen. Gemeinsam ergeben diese Untersuchungen ein äußerst komplexes, jedoch nicht zerstückeltes Bild.
Die sieben, dem Katalog vorangestellten Kapitel bieten auf mehr als hundert Seiten teils sehr detailliert aufgeführte neue Beobachtungen und Thesen. Der erste Abschnitt behandelt im Anschluss an eine eingehend wiedergegebene Forschungsgeschichte auch die Inschriften, die nach Ansicht der Autorin weniger Künstlersignaturen darstellen, als vielmehr die Sorge der Individuen um die eigene memoria zum Ausdruck bringen (28f.). In der nächstfolgenden kulturgeschichtlichen Studie zum Weihrauch als Substanz und Medium sowie seinem Gebrauch (II) werden die mit dem Räucherwerk verbundenen visuellen und olfaktorischen Erfahrungswelten innerhalb der Messfeier, des Stundengebets, bei Begräbnissen oder liturgischen Spielen am Ostermorgen vorgestellt (42).
Das dritte Kapitel widmet sich dem Material Bronze sowohl als Werkstoff als auch als Bedeutungsträger und der Gestalt der Rauchfässer im ersten Jahrtausend. Es wird evident, dass die islamischen Weihrauchgeräte formalgeschichtlich kaum eine Rolle spielen. Auch die antiken, spätantiken und byzantinischen Formen weisen nur vereinzelte Parallelen zu den späteren westlichen Werken auf. Eine gelegentlich postulierte lineare Entwicklung ist folglich auszuschließen. Die seit dem 9. Jahrhundert vorherrschende Grundform, die Kugelform mit zwei aufeinandergesetzten und mit Ketten zusammengehaltenen Hälften, findet bei Hiltrud Westermann-Angerhausen mit den veränderten Anforderungen in der Liturgie eine Erläuterung (52). Diese formalanalytische Sicht wird in Kapitel IV fortgesetzt, in welchem vornehmlich die Geräte mit Mikroarchitekturen nach den allgemeinen zeitlichen Begriffen der Romanik, Spätromanik, Gotik und Spätgotik dargestellt werden, erneut ohne eine stringente Entwicklungslinie zu suggerieren (60).
Einen Höhepunkt des Buches bilden die Kapitel zu den gusstechnischen Besonderheiten (V) und der Ikonografie (VI). Beide betonen die besondere Relevanz der Weihrauchfässer in der wichtigsten Schrift zur Technik- und Handwerksgeschichte des Mittelalters, der Schedula diversarum artium. Es ist bereits bekannt, dass kleinformatige Bronzewerke wie Türzieher trotz ihrer Herstellung "in verlorener Form", bei welcher der Tonkern zerstört wird, massenhaft produziert wurden. [1] Aber erst die Rauchfässer ermöglichen eine Detailstudie. Gleich sieben Objekte dienen als Beispiele für die Erläuterung der arbeits- und zeitökonomischen Methoden wie der Verwendung von vorgefertigten Wachsteilen, vorgedrehtem Tonkern, Schablonen und Matrizen. So konkret und anschaulich wurden diese Verfahren noch nie beschrieben. Im Anschluss erläutert die Autorin die allegoretischen und typologischen Deutungen der Weihrauchgeräte durch zeitgenössische Liturgiekommentatoren und erklärt dann den hervorgehobenen Status, der ihnen innerhalb der Schedula zukommt. Sie zeigt, dass das dort beschriebene getriebene Rauchfass mit Symbolen der Evangelisten und Personifikationen der Paradiesflüsse den Wortgottesdienst versinnbildlicht, während das gegossene Werk mit Mikroarchitekturen auf das Himmlische Jerusalem und somit auf den eucharistischen Teil der Messfeier verweist (98). Dies stellt neben einer anregenden Neuinterpretation der Schedula einen diskussionswürdigen Beitrag zur mittelalterlichen Technikikonologie dar, selbst wenn nicht bewiesen werden kann, dass auch reale Objekte mit solchen Bildern ebenso gedeutet und verwendet wurden.
Besonders sticht das letzte Kapitel zu Handelswegen und der Verbreitung der Weihrauchfässer (VII) hervor. Auffallend viele Werke sind nämlich nicht an dem Ort entstanden, an dem sie auch Verwendung fanden (111). Den weitreichenden Handel über die Frühformen der Hanse insbesondere nach Skandinavien dokumentieren 22 Karten. So kann beispielsweise nachgezeichnet werden, wie maasländische Weihrauchfässer eines bestimmten Typs (II k) wahrscheinlich über den Atlantik an Dänemark vorbei bis nach Norwegen und Mittelschweden gelangten (112). Es lässt sich weiter annehmen, dass bei der noch ausstehenden Untersuchung der in Ostmittel- und Südosteuropa erhaltenen Weihrauchfässer ebenfalls der Handel in diese Regionen bezeugt werden kann.
Der Katalogteil wiederum erlaubt aufgrund seiner übersichtlichen Gliederung nach formalen oder typologischen Eigenschaften der Geräte in fünf "Abteilungen" mit insgesamt sechzig Untergruppen eine praktische Verwendung als Handbuch. So können die in dem Band nicht beachteten Objekte - wie ein Weihrauchfass in Rotterdam [2] oder diejenigen in Osteuropa - durch die klare Strukturierung und die zahlreichen Abbildungen im anschließenden Tafelteil schnell eine Gegenstandssicherung erfahren. Der Verweis auf die nicht aufgenommenen Limoger Emailarbeiten, die italienischen Rauchfässer aus Kupferblech oder die nur marginal erwähnten Werke aus Edelmetall macht auf weitere Forschungsperspektiven aufmerksam.
Jeder Gruppe und Untergruppe ist eine Einleitung vorangestellt, in welcher die jeweiligen technischen oder formalen Besonderheiten erläutert werden. Diese legitimieren meist eine regionale sowie zeitliche Einordnung. Die Länge der Einträge variiert in Abhängigkeit von der Komplexität der Objekte. Sofern Materialanalysen vorliegen, werden diese erwähnt; auf eine Übersichtstabelle wird aber zu Recht verzichtet, da sich die durchgeführten Materialuntersuchungen als kaum aufschlussreich für die Zuordnung erweisen. Verwunderlich ist lediglich, dass einige Werke keinen eigenen Eintrag erhalten, sondern nur unter "Weitere Exemplare" (wie bei II g 15, II g 18) subsummiert werden.
Als dominierende Herstellungsregionen der Weihrauchfässer werden das Maasgebiet im heutigen Belgien sowie Norddeutschland angegeben. Doch aufgrund ihrer meist stilisiert gestalteten Formen, die komparatistische Studien nur in Einzelfällen ermöglichen, lassen sich bei der Einordnung die vielen Fragezeichen nicht vermeiden. Die Zuordnung einiger Artefakte nach Bayern? (II r 7), Finnland? (V d 22), Schottland? (V e 20) oder Norwegen? (V e 23) impliziert somit nur stilanalytische Tendenzen. Die Autorin meidet zudem die Zuweisung an konkrete Produktionszentren wie Magdeburg im 12. oder Hildesheim im 13. Jahrhundert, in denen eine Fülle an Aquamanilien, Leuchtern oder Kreuzfüßen entstanden ist. Bei einigen Rauchfässern, die als rheinländisch oder norddeutsch aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts geführt werden (II c 1-4), wäre beispielsweise eine Entstehung in Magdeburg um 1150 zu erwägen. Doch darf man bei dieser Materie für jeden Einordnungsversuch - auch wenn er über problematische Kriterien wie Auffindungsort und Provenienz erfolgt (111-112) - äußerst dankbar sein.
Bedauerlicherweise wird in dem Abbildungsteil größtenteils auf die Fotografien aus dem Nachlass des Bronzeexperten Erich Meyer (1897-1967) zurückgegriffen. Das hat sicherlich einen historischen Wert und ökonomische Gründe, doch wäre die Verwendung neuerer Aufnahmen gelegentlich hilfreicher. So hätte man unscharfe Abbildungen wie bei den Geräten in Gündelwangen (II t 2) oder Göteborg (IV q 32) vermeiden können, zu dunkle wie für die Werke in Hannover (II v 1) oder Stockholm (IV g 3) und zu kleine wie für die Objekte in Varnaes (III b 11) oder Lund (IV q 15). Erfreulich ist jedoch, dass bei den Werken mit einem komplexen ikonografischen Programm mehrere Ansichten präsentiert werden.
Das Buch von Hiltrud Westermann-Angerhausen zu den Weihrauchfässern demonstriert die seit einigen Jahren neu gesetzten Maßstäbe bei der Schaffung von Corpusbänden. Da die "Bronzegeräte des Mittelalters" oder etwa die "Elfenbeinskulpturen" nicht mehr als einheitliche Kategorien gelten können, müssen für jede einzelne Objektgattung jenseits eines Katalogs spezifische Fragestellungen entwickelt werden. Denn nur eine jeweils innovative Zusammenfügung objektorientierter Detailstudien mit vielfältigen weiteren Untersuchungen ermöglicht einen allumfassenden historischen Blick.
Anmerkungen:
[1] Ursula Mende: Türzieher des Mittelalters (= Bronzegeräte des Mittelalters; Bd. 2), Berlin 1981.
[2] Museum Boijmans van Beuningen, URL: http://collectie.boijmans.nl/en/collection/omb-13-a-b-%28kn-v%29.
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