Rezension
Die Neigung mancher Kunsthistoriker, sich einer immer theoretischeren Methodendiskussion hinzugeben, könnte den Eindruck erwecken, wesentliche Aufgaben des Faches seien bereits abgearbeitet. In Wirklichkeit gäbe es gerade im Bereich objektbezogener, empirischer Forschung noch viel zu tun: Man staunt, wie viele Museen und Sammlungen keine oder veraltete Bestandskataloge vorweisen. Der Prozentsatz gar nicht oder schlecht erschlossener Bestände ist hoch, und diese bleiben der Forschung vorenthalten. Die Gründe hierfür sind ebenso vielfältig wie simpel: Die Arbeit mit dem künstlerischen Original ist mühsam, Objekte müssen bewegt, untersucht, restauriert und fotografiert werden, Quellen- und Archivarbeit sind schweißtreibend, Sekundärliteratur recherchieren und lesbare Texte verfassen ebenso, von den Herausforderungen der Drucklegung ganz zu schweigen. Museumsmitarbeiter haben immer weniger Zeit für Forschung, einst eine Kernaufgabe von Museen und Sammlungen. Katalogarbeiten werden realiter heute meist mit befristet Beschäftigten realisiert, für die mehrjährig Drittmittel zu beschaffen sind.
Die Publikation des Bestandskatalogs der Gemälde der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel kann also nicht hoch genug gewürdigt werden. Umfang und Qualität des Bandes sind enorm: 591 Seiten, ein monumentales Format von 31,5 × 22 cm, 150 Katalogeinträge, 459 meist farbige Abbildungen. Der einleitende Aufsatz stellt die Erwerbung einzelner Konvolute und deren Hängung in den Bibliotheksgebäuden durch die Jahrhunderte vor. Die meisten Bilder wurden in den letzten Jahrzehnten restauriert. Die Einträge orientieren sich an den Bestandskatalogen des Städel Museum in Frankfurt. Den Kopfdaten mit Künstler, Bildtitel, Datierung und Inventarnummer folgen Abschnitte zu "Materiellem Bestand", "Beschreibung", "Provenienz", ggf. "Varianten" und "Kopien", ferner "Forschungsgeschichte", "Würdigung" (im Vorbild "Diskussion"), jeweils mit Fußnoten, und schließlich "Literatur". Jeder Eintrag ist durch eine mindestens viertel-, oft auch ganzseitige Farbabbildung des Gemäldes, aussagekräftigen Details von rückseitigen Beschriftungen, Signaturen etc., sowie zahlreichen Vergleichsabbildungen versehen. Für den Druck der Abbildungen hätte man sich freilich ein weniger offenporiges Papier gewünscht. Ein wesentlicher Unterschied zu den Städel-Katalogen liegt im Fehlen des Abschnitts "Gemäldetechnologischer Befund", dessen Erhebung den Rahmen wohl gesprengt hätte. Ein Anhang mit Gesamtliteraturverzeichnis, Konkordanz der Inventarnummern, ikonografischem Verzeichnis, Verzeichnis ehemaliger Besitzer und Sammlungen, Stammtafel von Mitgliedern des Hauses Braunschweig-Lüneburg im Fürstentum Wolfenbüttel, Abbildungsnachweis und Personenregister beschließt den Band.
Die Fülle neuer Informationen zur Entstehung der Sammlung und zu den einzelnen Werken kann hier nicht ansatzweise gewürdigt werden. Zu den überraschenden Erkenntnissen der Einleitung zählt, dass der Bibliotheksgründer Herzog August der Jüngere zu Braunschweig-Lüneburg (1579-1666) zunächst keinerlei Gemäldeschmuck vorsah. Erst unter der Ägide von dessen zweitgeborenem Sohn Herzog Anton Ulrich (1633-1714) gibt es systematische Porträterwerbungen für die Bibliothek.
Die Sortierung der Werke im Katalog ist alphabethisch nach Künstlernamen. Chronologisch reichen die Bilder von der Cranach-Zeit bis in die 1890er-Jahre. Bemerkenswert ist beispielsweise eine Gruppe von Bildnissen der beiden Cranachs und ihrer Werkstätten, darunter diejenigen Martin Luthers und seiner Frau Katharina von Bora von 1526, Melanchthons sowie des Fürsten Georg III. von Anhalt auf Pergament (Kat. Nrn. 8-13). Verschiedene Fragen wirft das Melanchthon-Porträt (Kat. Nr. 11) auf, dessen bisherige Provenienz nur bis 1944 zurückreicht, dessen Datierung sicher nachträglich ist und das ein seltsames, vorrangig vertikal ausgerichtetes Craquelé aufweist. Ein Hauptwerk des späten 16. Jahrhunderts ist das Gemälde Andreas Herneisen porträtiert Hans Sachs (Kat. Nr. 77), welches genrehaft die Entstehung eines kleinformatigen Tafelbildnisses in der Studierstube des berühmten Nürnbergers schildert. In diese Zeit gehören auch die beiden Seitenflügel des Epitaphaltars aus Schloss Hessen mit den Porträts des Herzogs Julius von Braunschweig-Lüneburg, seiner Gemahlin Hedwig von Brandenburg und ihrer Kinder (Kat. Nr. 141), deren Devotion wohl einer einst mittig angeordneten Darstellung der Kreuzigung Christi galt. Die Autorschaft des intensiv beforschten Retabels wird Paul Vredemann de Vries und einem unbekannten Künstler zugewiesen. Zu den Pretiosen der Sammlung gehört ferner der das Katalog-Cover zierende, ovale Bozzetto von Giovanni Antonio Pellegrini, Apoll und die Musen auf dem Parnass von 1714 (Kat. Nr. 95), für das Deckengemälde der Wolfenbütteler Bibliotheksrotunde. Diese war zwischen 1705 und 1713 von Herzog Anton Ulrich in ein bestehendes Marstallgebäude eingebaut worden, nunmehr der "erste selbstständige profane Bibliotheksbau der Neuzeit in Europa" (Zit. Ingrid Recker-Kotulla, 13).
Zahlenmäßig dominieren, wie nicht anders zu erwarten, die Bildnisse, von Repräsentanten des Hauses von Braunschweig-Lüneburg und von bedeutenden Vertretern der europäischen Geistesgeschichte. Eines der prominentesten Porträts aus der Zeit des Rokoko zeigt Gotthold Ephraim Lessing, gemalt von Anton Graff im Jahr 1771. Das Werk hat für die Bibliothek insofern erhöhte Relevanz, als Lessing ab 1770 bis zu seinem Tod hier selbst Bibliothekar war. Das erst 1962 bekannt gewordene Gemälde verfügt über eine bemerkenswerte Provenienz, denn Lessing hatte es offenbar seiner späteren Frau Eva König als Verlobungsgeschenk übereignet, und die Bibliothek kaufte es von deren Nachfahren an. Quellen zufolge ließ Lessing sich von Graff zwischen dem 20. und dem 29. September 1771 in der Berliner Wohnung Johann Georg Sulzers porträtieren. Allerdings gibt es noch zwei weitere Versionen, die sich mit dem Göttinger Bild um den Rang der "Urversion" streiten: jene der Kunstsammlung der Universität Leipzig, möglicherweise bestimmt für die Freundschaftsgalerie des Verlegers Philipp Erasmus Reich, und jene der Staatsbibliothek Berlin. Wenzel resümiert: "Die Unterschiede [...] lassen kaum die Entscheidung zu, welche [Fassung] denn als Original bei der Porträtsitzung begonnen wurde." (276) Hier ist man an die Ringparabel erinnert, denn für jede wurde bereits der Vorrang postuliert. Auch wenn man im Hinblick auf die einzelnen Versionen in mancher Hinsicht mehr in die Tiefe hätte gehen können, legt der Katalog in jedem Fall die Basis für weitere Überlegungen. Ein grundlegendes Problem betrifft die Eigentümlichkeit, dass die Katalogabschnitte "Provenienz" und folgende bei Porträtserien, etwa derjenigen von Medizinern und Botanikern (Kat. Nrn. 32-42), erst nach der Vorstellung der Bilder gesammelt abgehandelt werden (168-176).
Doch soll dies keinesfalls die staunenswerte Leistung des Katalogautors relativieren, welche die Gemälde der Wolfenbütteler Bibliothek in ungekannter Weise erschließt und künftige Studien auf eine völlig neue Basis stellt.
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