Rezension
Neuentdeckungen von herausragenden Gemälden des venezianischen Cinquecento sind nicht unbedingt alltäglich. Eine Ausnahme bildete 1999 der Fund einer "Auferweckung des Lazarus" von Jacopo Tintoretto in Wernersville, Pennsylvania, die der Forschung zwar bekannt war, doch lange Zeit als verschollen galt (Franco Mormando, Tintoretto’s recently rediscovered "Raising of Lazarus", in: The Burlington Magazine 142, Nr. 1171, Oktober 2000, 624–629). Auch die kleine Monographie von Helga Wäß präsentiert ein venezianisches Bild der ersten Cinquecentohälfte, einen "Raub der Sabinerinnen", der offensichtlich stets in Privatbesitz und somit für die öffentlichkeit unzugänglich aufbewahrt worden war und der sich heute in einer deutschen Privatsammlung befindet. Der Untertitel "Neueste Forschungen zum Frühwerk Tintorettos" läßt zunächst vermuten, dass wir uns auch in diesem Falle über die Neuentdeckung eines Werkes des Venezianers freuen dürfen, auch wenn sich bei der Betrachtung der Farbtafeln (Abb. 5, 6) gewisse Zweifel einstellen.
Im ersten Teil widmet Helga Wäß dem Bild eine ausführliche, wenngleich recht umständliche und sprachlich ungelenke Beschreibung. Ihr besonderes Augenmerk gilt dabei – wie auch im Zusammenhang mit der Zuschreibungsfrage (S. 67–72) – der technischen Seite des Gemäldes, insbesondere der 1990/91 erfolgten Restaurierung.
In einem nächsten Schritt wird die Ikonographie untersucht. Die Wahl des Bildgegenstandes war durch die seit dem Cinquecento verbreitete Neigung der bedeutenden venezianischen Patrizierfamilien motiviert, sich eine antike Abstammung zu konstruieren und diese durch eine ausgeprägte Privatikonographie zu untermauern. Die Gradenigo gehörten zu den ältesten und wichtigsten Clans der Stadt. Im "Raub der Sabinerinnen" wird die Bedeutung der Familie im Zusammenhang mit der Gründung Venedigs zur Rolle der mythischen Gründerväter Roms in Beziehung gesetzt. Welches Familienmitglied man allerdings mit Romulus identifizieren wollte, dem ostentativ das Gradenigo-Wappen zugeordnet ist, bleibt ungeklärt.
Der kurze zweite Teil – "Provenienz" – wäre in der Einleitung besser aufgehoben. Wahrscheinlich war das Gemälde für einen Palast oder eine Villa der Familie bestimmt, vielleicht gar für die Villa Gradenigo-Dolfin in Oriago, die – wie die Autorin zu Recht bemerkt (S. 22f.) – im Gemälde dargestellt ist.
Hinter dem Titel des dritten Kapitels "Ikonographie und Bild-Rhetorik" verbergen sich mehrere Absichten: Zunächst wird der problematische Versuch einer genetischen Ableitung des ikonographischen Gegenstandes von mittelitalienischen Vorbildern – Cassonetafeln, den Fassadenfresken des Polidoro da Caravaggio und dem "Sabinerinnenraub" des Sodoma – unternommen. Auch die Suche nach kompositionellen Parallelen erweist sich als heikel: Der Vergleich mit Raffaels "Kindermord" und Salviatis "Heimsuchung" enthüllt eher Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Es bleibt bei vereinzelten Zitaten aus diesem Bereich. Hingegen ist der Einordnung des Gemäldes in sein venezianisches Umfeld mehr Erfolg beschieden: Evident sind die Anleihen bei Tizians "Tempelgang Mariens" (S. 52); zu ergänzen wären Motivübernahmen aus seiner "Schlacht von Spoleto". Auch die Architektur im Bild ist stilistisch in Venedig beheimatet; es werden vor allem Motive der seit 1537 entstehenden Libreria Sansovinos verarbeitet. All dies spricht für eine Entstehung des Gemäldes gegen 1540.
Das vierte Kapitel gilt der Zuschreibung des Gemäldes. Ausgangspunkt bildet ein Gutachten von Rolf Kultzen, der das Bild dem Veroneser Maler Bonifacio de’ Pitati zuwies. Was im Untertitel der Studie angedeutet ist, wird erst jetzt zur Gewißheit: Die Autorin vertritt hier die gewagte These, der "Sabinerinnenraub" sei ein Frühwerk Tintorettos, und zwar gemalt in der Art des Bonifacio de’ Pitati. Freilich ist die Tatsache unbestritten, dass sich Tintoretto in seinen frühen Werken auch mit Bonifacios Kompositionen auseinandersetzte. Doch handelt es sich dabei nur um motivische und kompositionelle Anregungen, die der von Anfang an eigenständige und eigenwillige Venezianer immer nach seinen Vorstellungen weiterentwickelte. Einen Vergleich mit den frühesten bekannten Werken Tintorettos hält der "Sabinerinnenraub" nicht aus. Der rasante Tiefenzug des Mailänder Bildes "Christus unter den Schriftgelehrten" etwa, die vehementen und weit ausgreifenden Gesten der über gewaltigen Büchern Disputierenden sowie der Kontrast- und Variantenreichtum in der Figurenerfindung sind Merkmale, die das Raptusbild trotz seiner erheblich größeren Dimensionen daneben kleinmeisterlich und wenig ausdrucksvoll erscheinen lassen.
Dagegen sind im "Raub der Sabinerinnen" Parallelen zu Werken des Bonifacio in der Gesamtkomposition, in den Figurentypen und in der Gestik sowie in der Landschaft mit ihren charakteristischen Bergformationen unübersehbar. Die zahlreich in der Architektur verteilten Cipollino-Säulen können gar als ein Markenzeichen des Bonifacio gelten. Es fällt indes schwer, den Schöpfer der "Madonna dei Sartori" (Venedig, Accademia) mit dem Maler der streng friesartig und ohne spürbare Tiefenerstreckung angelegten Raubszene und den darin enthaltenen schwerfälligen Hebefiguren im "Sabinerinnenraub" zu identifizieren. In der schönen Gruppe des Hl. Homobonus mit dem Bettler zeigt sich Bonifacios Befähigung, Figuren in komplexen, raumdefinierenden Posen miteinander zu verbinden. Ein gewisser Hang zur additiven, bildflächenparallelen Schichtung des Raumes ist hingegen in dem 1536 datierten "Kindermord" zu erkennen, den Bonifacio für den Palazzo dei Camerlenghi ausführte. Leider hat die Autorin dieses Bild und andere Werke des Camerlenghi-Projekts zu wenig studiert.
Die äußere Form der Arbeit ist ausgesprochen schlampig: Der Text strotzt vor Druckfehlern, der erste erscheint bereits auf dem Umschlag. Unerfreulich ist außerdem die bisweilen sehr unruhige Seitenkomposition und das außerordentlich kleine Schriftbild des Fußnotenapparates, dessen Lektüre auch für Leser mit guten Augen eine erhebliche Belastung darstellt. Ein Pluspunkt sind die Farbabbildungen, die das Gemälde vor und nach der Restaurierung zeigen. Leider geben sie das Bild am Rand beschnitten wieder, und auch die zentrale Partie, die in den Bund des Buches einsinkt, bleibt dem Leser verborgen.
Es kommt Helga Wäß das Verdienst zu, ein unbekanntes Werk des venezianischen Cinquecento mit packender Thematik sowie von ansprechendem Format und solider Machart einem breiteren Publikum zur Kenntnis gebracht zu haben. Dass es sich dabei nicht um ein Frühwerk Tintorettos, sondern um ein Gemälde aus dem Umkreis des Bonifacio de’ Pitati handelt, mag man verschmerzen. Auch wenn die Grundkonzeption des "Sabinerinnenraubes" von Bonifacio stammen könnte, so darf man doch die Ausführung zum überwiegenden Teil seiner Werkstatt zuschreiben. über die bedeutende und umfangreiche "bottega" des Bonifacio, über ihre Mitglieder und ihre Stellung im venezianischen Kunstbetrieb ist bislang wenig bekannt. Der "Raub der Sabinerinnen" könnte Anlaß dazu geben, sich mit ihr eingehender zu beschäftigen.
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