Rezension

Michael Rohlmann / Andreas Thielemann: (Hg.) Michelangelo. Neue Beiträge, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2000,
Buchcover von Michelangelo
rezensiert von Marcus Kiefer, Kunstgeschichtliches Institut, Philipps-Universität, Marburg

Die Beiträge des hier anzuzeigenden Sammelbandes gehen auf die Vorträge eines Michelangelo-Kolloquiums zurück, das vom Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln im November 1996 veranstaltet wurde. Eins muss von vornherein klar sein: Wenn ein einzelner Künstler, sein Werk und seine Wirkung den Bezugspunkt einer Tagung bilden (ohne dass die Redner auf eine bestimmte Fragerichtung im Voraus eingeschworen werden), wird das Ergebnis, veröffentlicht als Buch, in der Regel nur eine Aneinanderreihung gedanklich isolierter Einzelbeiträge sein. So sind auch im vorliegenden Fall die Verschiedenheiten der Ansätze nicht zu übersehen. Knappste Hinweise zu den Einzelinteressen, die von den acht Autoren verfolgt werden, müssen daher im Folgenden an die Stelle einer zusammenfassenden Würdigung treten:

1.) In einer breit angelegten und vorbildlich komplexen Argumentation, die an bereits publizierte Untersuchungen desselben Verfassers anknüpft, unternimmt Andreas Thielemann den Versuch, die 'Kentaurenschlacht' der Casa Buonarroti bzw. deren Stileigentümlichkeiten aus dem Stoffgehalt des mythographisch vermittelten Themas abzuleiten und diese Verschränkung von Form und Inhalt aus dem Zusammenwirken von Bildhauer (Michelangelo), Berater (Poliziano) und Mäzen (Lorenzo il Magnifico) quellennah zu erklären. Da die Bezeichnung 'nubigenae' ('Wolkengeburten') als Synonym für die Kentauren im Umfeld des jungen Künstlers bekannt war, und ferner: da im späten Quattrocento 'wolkige' Strukturen, wie Leonardos Direktiven für die Schlachtenmalerei belegen, als formprägender Faktor der Schlachtendarstellung postuliert werden konnten, liegt nachE inschätzung von Thielemann der Schluss nahe, das Thema 'Kentaurenschlacht' sei in Michelangelos Relief unter Einsatz eines 'nubigen' strukturierten Kompositions- und Figurenstils sujetgerecht dargestellt worden, wobei die vermeintlich nur stilistisch zu verstehende 'nubigene' Relieftechnik zugleich dazu diene, die dem Thema 'Kentaur' topisch inhärente Phantasieleistung des Künstlers sichtbar zu machen (seit der Antike waren die wolkengeborenen Kentauren das Paradebeispiel für einen künstlerischen Inhalt, den man sich nur mittels der Vorstellungskraft ausmalen könne). Damit zusammenhängend vertritt Thielemann eine weitere überdenkenswerte These: Der programmatische Bezug auf literarisch überlieferte Schlachtenreliefs des Phidias, der Michelangelos Kentaurenrelief im Sinne eines wetteifernden Nachahmens präge, betreffe auch das mit der Phidias-überlieferung eng verknüpfte Idea- bzw. Phantasia-Prinzip. Michelangelos concettistische Kunstauffassung sei daher in ihren Anfängen keineswegs der Beschäftigung mit neuplatonischer Theorie entwachsen, sondern wurzele in der von Poliziano nahegelegten Orientierung an der antiken Bildhauerkunst und ihrem berühmtesten Vertreter.

2.) Auch der Aufsatz von Kerstin Schwedes über Michelangelos frühe 'Pietà' in St. Peter lohnt die Lektüre, obgleich man das Wesentliche und Förderliche bereits in der Dissertation der Verfasserin erfahren konnte. Mit Blick auf den ursprünglichen Aufstellungsort der Skulpturengruppe in Santa Petronilla wird - Teilen der älteren Forschung folgend - eine geringe Postierungshöhe angenommen und der auf andächtige Verehrung sowie gefühlsmäßige Anteilnahme ausgerichtete Charakter dieses monumentalen Vesperbildes hervorgekehrt. Auch an diesem mittelalterlichen Bildtypus und seiner Funktion konnte Michelangelo die Modernität seiner Kunst unter Beweis stellen. Schwedes zeigt dies vor allem anhand der gestischen Sprache Mariens und der vergleichsweise lebendigen Darstellung des toten Christus. Darüber hinaus wird der Baumstumpf, der unter dem linken Fuß des Leichnams erscheint, in einen Erklärungszusammenhang mit vergleichbaren Motiven in den Deckenhistorien der Sixtina gebracht und als Element einer Andachtsikonographie interpretiert.

3.) Der Aufsatz von Claudia Echinger-Maurach, der Michelangelos Madonnenbilder der zweiten Florentiner Periode in ihrem Verhältnis zu Bildlösungen Leonardos beleuchtet, überzeugt durch seine schulmäßige Machart. Im Rahmen sattsam erprobter Argumentationsmuster werden die zur Diskussion stehenden Madonnen-Concetti einer akribischen Analyse unterzogen, die Fragen der Bildgenese im Lichte der Wettbewerbsidee zu klären versucht.

4.) Wiebke Fastenrath entfaltet in ihrem Beitrag eine These, die Interesse verdient, doch in starkem Maße überzogen ist und schon im Rahmen von Fastenraths Dissertation nur wenige Leser vollauf überzeugt haben dürfte ("Finto e favoloso". Dekorationssysteme des 16. Jahrhunderts in Florenz und Rom, Hildesheim / Zürich / New York 1995). Man kann besagte These etwa so zusammenfassen: Da die Möglichkeit, fundamental verschiedene Seinsbereiche miteinander zu verknüpfen, ein Grundmerkmal der Groteskenmalerei darstelle, und ferner: da die Deckenfresken der Cappella Sistina mit ihren unterschiedlichen Realitätsgraden eine groteskenähnliche Struktur aufwiesen, müsse die Entdeckung und Nachahmung der antiken Ornament-Groteske (respektive das Prinzip grotesker Gegenstandsgefüge) als historische Voraussetzung der Deckengemälde in der Papstkapelle angesehen werden. Wenn Fastenrath die Sixtinische Decke als "Monumentalisierung und Architektonisierung der antiken Groteske" vorstellt, geht es also um mehr als eine Strukturverwandtschaft: Die Verfasserin legt die entwicklungsgeschichtliche Annahme nahe, vom Ornament zum Dekorationssystem führe ein direkter Weg. Darüber ließe sich trefflich streiten. Sicher dagegen ist: Da der Aufsatz von Fastenrath fast immer mit den entsprechenden Passagen ihrer oben erwähnten Dissertation übereinstimmt - und zwar nicht nur dem Sinne nach, sondern Wort für Wort -, hätte man in einem Tagungsband, dessen Untertitel "Neue Beiträge" verspricht, auf solch eine Wiederholung besser verzichtet. Da die Bedrängung und überforderung des Gelehrten durch das aufzunehmende Angebot wissenschaftlicher Texte nicht nur in der Michelangelo-Forschung ein Problem darstellt, darf man wenigstens an solch bescheidener Stelle vielleicht einmal sagen, dass auch in einem Aktenband weniger häufig mehr ist.

5.) Sabine Poeschel beschäftigt sich mit den 'Vorfahren Christi', die in den Stichkappen und Wandlünetten der Sixtinischen Kapelle dargestellt sind. Dass diese Bildfelder bisher im übermächtigen Schatten der übrigen Programmeinheiten der Sixtina standen, muss man bedauern, denn die Ikonographie der antenati ist alles andere als anspruchslos. Gäbe es die Namensinschriften nicht, wäre niemand je auf die Idee gekommen, hier seien Christi Ahnen zur Anschauung gebracht, und zwar aus einem einfachen Grund: Im Unterschied zur traditionellen Ikonographie - man denke etwa an Giottos 'Ahnen Christi' in der Arena-Kapelle - zeigt Michelangelo nicht nur männliche Einzelfiguren, sondern auch inschriftlich nicht bezeichnete Frauen, ja ganze Familien. In der Fülle neuer Einsichten, die der vorliegende Sammelband zur Sixtinischen Kapelle bietet, scheint mir eine der wichtigsten, wenn nicht die entscheidende die zu sein, dass Michelangelo die weiblichen antenati, die in der Regel von einem Kind begleitet werden, in eine ähnlichkeitsbeziehung zu marianischen Bildtypen gebracht hat. Nicht selten klingt in einer Figurenkonstellation das Ausdrucksschema der für die Hochrenaissance kennzeichnenden Sacra Familia-Ikonographie an. Dass es hier um die Visualisierung einer Sinnbeziehung zwischen Personen der bildlich gegenwärtigen und der kommenden heilsgeschichtlichen Zeit gehen könnte, ist der naheliegende Schluss. Die 'Ahnen Christi' erscheinen in der Sixtina also in einem ganz anschaulichen Sinn als Verwandte der Heiligen Familie.

6.) Michael Rohlmann widmet sich in einem Aufsatz, der über weite Strecken lediglich Bekanntes bekannt gibt, dem Gerichtsfresko der Sixtina. Rohlmann sucht zu neuen Erkenntnissen vorzustoßen, indem er einzelne Motive und Figurengruppen der Altarwand auf die älteren, unmittelbar anschließenden Gemälde bezieht und darüber hinaus die Gerichtsdarstellung in ihrer Gesamtheit als himmlisches Spiegelbild des liturgischen und zeremonialen Geschehens in der Kapelle deutet: als bildliche Spiegelung und überhöhung der Raumfunktionen.

7.) Dass der Bildhauer Baccio Bandinelli, eitel und geltungssüchtig wie er nach Vasaris überlieferung war, zu einer oft rührenden und zuallermeist peinlichen, an der Grenze des Lächerlichen schwankenden Unfigur wurde, ist nicht zuletzt seiner Identifikation mit und Konkurrenz zu Michelangelo geschuldet. Nachfolge und überbietung eines modellhaft vorgeprägten Künstlertums treten daher im Verhältnis Bandinelli-Michelangelo in fast schon tragikomischer Weise hervor. Michael Wiemers beleuchtet diese Künstlerkonkurrenz mit Blick auf die werkvorbereitenden Zeichnungen, die Bandinelli für seine 'Herkules und Kakus'-Gruppe angefertigt hat, die ursprünglich (1508) von Michelangelo realisiert werden sollte und 1534 als Pendant zu Michelangelos 'David' vor dem Florentiner Ratspalast aufgerichtet wurde.

8.) Der Artikel von Christina Strunck, Höhe- und Schlusspunkt des vorliegenden Bandes, erbringt den überraschenden Nachweis, dass der ursprünglich für das Juliusgrab vorgesehene 'Sieger' durch seine Aufstellung im Salone dei Cinquecento des Palazzo Vecchio die Voraussetzung und den Anlass dafür bot, die Ikonographie und Anordnung der Deckenmalereien Vasaris - mehr als ein Jahr nach Ausmalungsbeginn! - entscheidend zu modifizieren. Die Triumphgruppe der 'Firenze', mit der Giambologna sich gegen Michelangelos 'Sieger' behaupten musste, einer schlüssigen Neuinterpretation unterzogen zu haben, ist ein zusätzliches Verdienst dieser konzis formulierten Studie.


Marcus Kiefer

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Marcus Kiefer: Rezension von: Michael Rohlmann / Andreas Thielemann: (Hg.) Michelangelo. Neue Beiträge, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2000
in: KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 3,

Rezension von:

Marcus Kiefer
Kunstgeschichtliches Institut, Philipps-Universität, Marburg

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr