Rezension
Wie bei kaum einem anderer Künstler war das Werk von Chardin (1699-1779) nach seiner Wiederentdeckung im mittleren 19. Jahrhundert hinter einem dichten Schleier nachträglicher Rezeption beinahe unkenntlich geworden. Von den ersten begeisterten Stimmen der Brüder Goncourt oder Bürger-Thorés über die führenden Literaten der vorletzten Jahrhundertwende bis zu den Künstlern und Intellektuellen des früheren 20. Jahrhunderts dienten die Stilleben und Genrebilder des Künstlers vornehmlich als Projektionsflächen eigener ästhetischer oder literarischer Ideale. Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Kunstgeschichte sich daran gemacht, die Gemälde Chardins in ihrem historischen Entstehungszusammenhang zu interpretieren, ihre ursprünglichen Bedeutungen hinter den Schichten ihrer jüngeren Rezeption gewissermaßen freizulegen und als Werke eines Künstlers im Kunstbetrieb des französischen 18. Jahrhunderts zu verstehen.
Pierre Rosenberg, lange Jahre Direktor der Gemäldegalerie des Louvre und Herausgeber des vorliegenden Bandes, hat diese Forschungsrichtung wie kaum ein anderer maßgeblich geprägt. Mit seinen umfassenden Pariser Ausstellungen 1979 und 1999 und einem bereits 1983 erschienenen Oeuvrekatalog des Künstlers gilt er als der führende Chardin-Experte. Das vorliegende populärwissenschaftliche Buch beruht auf einer anläßlich der jüngsten Chardin-Ausstellung herausgebrachten revidierten Neuauflage von Rosenbergs grundlegender Monographie von 1983. Neben diesem wissenschaftlichen Text hat der französische Verlag zugleich eine populäre Version herausgebracht, die Rosenbergs unveränderten Einleitungsessay von 1983 und eine Auswahl aus dem wissenschaftlichen Anhang, eine inzwischen leicht aktualisierte tabellarische Biographie, eine Anthologie berühmter Texte der Chardinrezeption sowie eine kurze kommentierte Bibliographie, wiederabdruckt. Diese älteren Texte sind mit einem neuen Essay von Renaud Temperini, einer Einführung in Leben und Werk des Künstlers, verbunden und werden von Rosenberg in einem kurzen Vorwort in den Zusammenhang der Chardin-Forschung gestellt. Wie die französische Originalausgabe ist auch die in Lizenz von einem deutschen Verlag herausgebrachte englische übersetzung, auf die sich diese Rezension bezieht, opulent mit farbigen Abbildungen versehen.
Diese Austattung des Bandes wie die Auswahl der Texte weisen das Buch als Publikation aus, die an ein breites Publikum gerichtet ist. Das angelsächsische Verlagswesen kennt hierfür die Bezeichnung "coffee-table book" und es mag kein Zufall sein, daß sich der Verlag entschlossen hat, den Text zunächst nur in einer englischen und nicht in einer deutschen übersetzung anzubieten. Im Rahmen dieser hierzulande meist abwertend beurteilten Gattung erscheint die vorliegende Chardin-Monographie jedoch als ein vorbildliches Werk hinsichtlich der Qualität der Texte und der Reichhaltigkeit gebotener Informationen. Die namhaften Experten garantieren eine seriöse Einführung nicht nur in die seit längerem bekannten Fakten von Chardins Werdegang und seiner Bildproduktion, sie ermöglichen dem nicht vorgebildeten Leser sogar einen gewissen Einblick in die aktuelle Forschungslage. Rosenbergs Einleitungsessay faßt die wesentlichen Etappen der Chardin-Forschung zusammen und vermittelt einen überblick über die gegenwärtig in diesem Bereich diskutierten Fragen, von der Rolle der Gattungshierarchie in der Akademie und den dort gescheiterten Aufstiegsambitionen des Künstlers bis zu den Problemen, die Bildsujets trotz ihrer entwicklungsgeschichtlichen Herkunft aus der niederländischen Barockmalerei mit Hilfe der traditionellen Ikonographie zu interpretieren.
Der längere Beitrag Temperinis stellt eine umfangreiche Auswahl von Werken aus dem Gesamtschaffen des Künstlers in annähernd chronologischer Reihenfolge vor und diskutiert ihren Stellenwert in einer Qualitätshierarchie. Die geringe Zahl von Bilderfindungen, die Chardin während seiner Schaffenszeit hervorgebracht hat, ist meist in einer ganzen Reihe eigenhändiger Repliken überliefert, die z.T. geringere Modifikationen im Bildausschnitt oder im Format aufweisen. Innerhalb dieser Bildproduktion gibt es erhebliche Qualitätsunterschiede und so war es das wesentliche Anliegen einer kennerschaftlich ausgerichteten Forschung, die qualitativ besten Versionen zu ermitteln und in eine möglichst präzise chronologische Reihenfolge zu stellen. Temperinis Beitrag zieht die Summe dieser Bemühungen, die ihr Zentrum im Umfeld Rosenbergs und der streng kennerschaftlich ausgerichteten Ecole du Louvre haben. Seine Auswahl konzentriert sich fast ausschließlich auf ein Destillat der qualitätvollsten Ausführungen innerhalb des Oeuvres von Chardin und vermittelt dadurch gerade nicht, welche Kriterien die Bildauswahl gesteuert haben. In einem einzigen Fall bietet das Buch in seinen Abbildungen den Vergleich von zwei Repliken desselben Genresujets, des sog. "Tischgebetes" in zwei Fassungen des Louvre (Inv. Nr. 3202 bzw. M.I. 1031), ohne daß der Verfasser diese Gelegenheit nutzt, um seinen Lesern die Qualitätsunterschiede zu erläutern.
Die eng kennerschaftliche Ausrichtung der Autoren hat dazu beigetragen, daß andere Aspekte der Chardin-Forschung dem erwarteten breiten Leserkreis weitgehend vorenthalten werden. So weist Temperini in seiner Werkschau zwar gelegentlich kurz auf ikonographische Interpretationsvorschläge zu einzelnen Bildsujets hin, nicht ohne sie jedoch regelmäßig mit dem Argument zurückzuweisen, daß eine solche Interpretation nicht in der Intention des Künstlers gelegen habe. Auch Rosenbergs aktuelles Vorwort betont die Vermutung, Chardins Arbeit sei ausschließlich künstlerischen Problemen gewidmet gewesen, die sich in der zeitgenössischen Kunstkritik eines Diderot oder Cochin spiegelten, während die durch Reproduktionsstiche überlieferten ebenfalls zeitgenössischen Bildunterschriften, die den Genrebildern eine moralisierende Emblematik niederländischer Herkunft unterlegen, gegen seinen Willen oder doch zumindest ohne sein Zutun hinzugefügt worden wären. Inzwischen gibt es jedoch eine Reihe von Vorschlägen, wie dieser Widerspruch aufgelöst werden kann, wenn man unterschiedliche Rezipientenschichten für die Gemälde und die danach hergestellten Stiche voraussetzt. Ein Hinweis auf diese Forschung hätte die Autoren von der Notwendigkeit befreit, den Künstler in einem quasi-revolutionären Widerspruch zur Bildtradition zu verorten, der mit seinem konformen Verhalten innerhalb der Akademiehierarchie, wie Rosenberg selbst zugibt, kaum vereinbar erscheint.
Die methodischen Scheuklappen der Autoren haben schließlich auch dazu geführt, alle sozialhistorischen oder politischen Interpretationen, die in jüngerer Zeit die Forschung zum französischen 18. Jahrhundert geprägt haben, abzuwehren oder zu unterschlagen. Besonders unerfreulich ist diese Strategie, wenn sie eine abweichende Meinung indirekt durch manipulativen Gebrauch von Quellen zu diskreditieren versucht. In dem Abschnitt, in dem Temperini Chardins überraschende Aufnahme in die Akademie im Jahre 1728 anhand von vier Quellenzitaten darstellt, ignoriert er nicht bloß die Feststellung von Thomas Crow (1985), daß die ausführlichste Darstellung (Hallet de Couronne 1779) offensichtlich auf dem aus älteren Künstlerviten adaptierten literarischen Topos der "zufälligen Entdeckung" des Künstlers beruht. Während er die in dieser Quelle behauptete Verwechslung von Chardins Stilleben mit ihren niederländischen Vorbildern unkommentiert vorstellt, distanziert er sich unter Hinweis auf ihr spätes Entstehungsdatum von einer gleichzeitigen zweiten Quelle (Le Nécrologe 1779), aus der hervorgeht, daß die Akademiemitglieder Chardins Arbeit bereits von den Ausstellungen auf der Place Dauphine kannten, sich also wohl kaum in der von Hallet de Couronne behaupteten Weise hätten täuschen können. Dieser selektive Umgang mit den Quellen erhält seinen Sinn offenbar erst, wenn man darin eine versteckte Reprise auf Crow und ähnliche Ansätze erkennt, die dem anvisierten Leserkreis sicher nicht geläufig sind.
Trotz dieser Einschränkungen handelt es sich bei der von Rosenberg herausgegebenen Einführung zu Chardin um ein insgesamt gelungenes Beispiel anspruchsvoller Populärwissenschaft mit aufwendiger Ausstattung und einem für solche Texte nicht selbstverständlichen biographischen und bibliographischen Zusatzangebot. Es wäre zu wünschen, daß diese Gattung nichtwissenschaftlicher Literatur wegen ihrer enormen Reichweite auch von der deutschsprachigen Kunstgeschichte ernst genommen werden würde.
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