Rezension

Stephanie Marchal: Gustave Courbet in seinen Selbstdarstellungen. , München: Wilhelm Fink 2012, 470 S., ISBN 978-3-7705-5265-8, 59.00 EUR
Buchcover von Gustave Courbet in seinen Selbstdarstellungen
rezensiert von Barbara Palmbach, Starnberg

Stephanie Marchal untersucht in ihrer 2012 im Wilhelm Fink Verlag erschienenen Dissertation die bisher in der Kunstgeschichte wenig berücksichtigten Selbstdarstellungen Gustave Courbets (1819-1877) und rückt diese in ein völlig neues Licht. Dieses Forschungsdefizit füllt die Autorin nicht nur mit detaillierten Werkanalysen, sondern sie sucht vor allem auch nach neuen Antworten auf die spannende Frage nach der Motivation und der Funktion der nahezu 50 Selbstporträts. Mit geradezu detektivischem Feingespür nimmt Marchal den Leser an die Hand und dringt dabei in die unterschiedlichsten Bereiche vor, mit welchen Courbet zeitlebens verbunden war.

Nach einer für Dissertationen üblichen Einführung ins Thema sowie einem sich anschließenden Teil zum Forschungsstand, Methodik und Aufbau der Arbeit stellt die Autorin die Selbstbildnisse Gustave Courbets von ca. 1839-1855 in den ersten beiden Kapiteln vor. Diese unterteilt sie wiederum in die frühen Selbstbildnisse (ca. 1839-1848) und die programmatischen Selbstbildnisse (ca. 1848-1855), jeweils nach Themen und Motiven gegliedert.

Das darauffolgende Kapitel, in welchem die Autorin ihre gewonnenen Erkenntnisse zu den Selbstbildnissen von 1839-1855 resümiert, rundet den ersten Teil der Publikation ab. Hierbei stellt Marchal Bezüge der Selbstporträts zur zeitgenössischen Literatur her, insbesondere zu Texten des klassischen Bildungsromans von Autoren wie Alphonse de Lamartine, Stendhal, Honoré de Balzac, George Sand, Alfred de Musset und Gustave Flaubert. Gemeint sind damit die Selbstporträts aber nicht als "bloße Illustration" der Romanhelden, sondern als ein Zeugnis einer "geweiteten Individualitätssemantik", einer "kognitiven und emotionalen Entwicklung" (268f.) im ideengeschichtlichen Kontext seiner Zeit. Dass diese Literatur von Courbet gelesen und mit Literaten-Freunden diskutiert wurde, belegt die Autorin anhand zeitgenössischer Quellen. Der Mensch als Individuum "auf seinem Bildungsweg", dem "seit der Aufklärung eine unwiederholbare Besonderheit seines Daseinsrechts zuerkannt wird" (271), wie er vor allem im zeitgenössisch-modernen Roman, noch vor der Malerei, eine adäquate Ausdrucksform gefunden hat, ist nach Marchal also Thema von Courbets Selbstbildnissen.

So lassen sich beispielsweise auch Courbets bekannte Versionen des Verzweifelten (Kat. 22, 23) in den literarischen Kontext der in der Bildungsromanliteratur so häufig zitierten Selbstmordgedanken der jungen Romanprotagonisten einordnen. Auch die szenenartig, situativen Beispiele der Selbstdarstellungen Le Rencontre (Tafel XXIV) und L'Atelier (Tafel XXV) bestätigen diese These und zeigen, dass hier eine neue Bildsprache entstanden ist, die nicht nur einen Bezug zu individuellen Bildergeschichten und Tableaus des Bildungsromans herstellen, sondern auch die französische Selbstporträttradition in eine neue Richtung vorantreiben. Unmittelbar anschließend an dieses Zwischenresümee kann der Leser die soeben im Text erfahrenen Ergebnisse anhand der Farbtafeln nachvollziehen. Dass der überwiegende Teil der Abbildungen insgesamt in Schwarz-Weiß gehalten ist, stört daher nicht, zumal diese, was der aufmerksame Leser sehr schätzt, an den jeweils dazugehörigen Textstellen zitiert werden.

Dass ein Selbstporträt nicht zwangsläufig das mimetische Abbild des Selbst wiedergeben muss, sondern auch ein poetischer Entwurf bzw. eine Metapher mit Verweisfunktion sein kann, ist Thema des folgenden Kapitels "Selbstreferentielle Gestaltideen" (281). Marchal führt dem Leser insbesondere anhand der Jagdbilder Courbets klar vor Augen, dass es dem Maler bei seinen Selbstdarstellungen hier um viel mehr ging, als ein bloßes Abbild seiner selbst zu geben. Das Themenspektrum der Jagd, das Courbet zeitlebens begeisterte, liefert dafür ein schönes Beispiel. Die Autorin arbeitet diesbezüglich ein Konzept heraus, das besonders in Bezug auf den politisch engagierten Maler Courbet sehr aufschlussreich ist. Denn das bisher ausschließlich dem Adel vorbehaltene und im 19. Jahrhundert erstmals auch vom bäuerlichen Bürgertum genutzte Jagdrecht bedeutet für Courbet auf der einen Seite ein "neu errungenes Freiheitsgefühl" (285) und ein Gefühl der Unabhängigkeit, das er in seinen Jäger- und Wildererdarstellungen zum Ausdruck bringt. Auf der anderen Seite ist die Jagd für Courbet auch ein Mittel zur Selbstreflexion über Leben und Tod, über den Lauf der Dinge und den Kreislauf des Lebens, wie man es etwa in Chasseur à Cheval (Kat. 63) und La Curée (Kat. 61) nachvollziehen kann.

Neben Darstellungen der Figur des Jägers, der teilweise die physiognomischen Züge Courbets trägt, weisen nach Marchal auch die im Zusammenhang mit der Jagd festgehaltenen Tiere selbst auf den Menschen und seine Leiden hin und rücken dadurch wieder in die Nähe des Selbstbildnisses L'homme blessé (Kat. 46) (293f.). Das Tier, wie z.B. in Le Cerf à l'eau (Kat. 64), wird damit "individualisiert und z.T. anthropomorphisiert" (292).

Eine Weiterführung und Vertiefung dieser Sinnbilder menschlicher Bedeutungsdimensionen belegen die sich anschließenden Bildanalysen der Stillleben von Courbet, darunter auch das bislang in der kunsthistorischen Literatur wenig berücksichtigte Pfeifen-Stillleben (Kat. 68). Nach einer Untersuchung der späten Selbstbildnisse (ca. 1855-77), vor allem im politisch-biografischen Kontext der Zeit, stellt die Autorin im darauffolgenden Kapitel die fotografischen Porträts den malerischen gegenüber. Anders als die gemalten Selbstbildnisse interpretiert Marchal die Porträtfotografien als "Propaganda in eigener Sache" (347). Sie dienen Courbet der Imagekonsolidierung und bildlichen Verbreitung eines "geerdeten, stolzen, ehrlich-aufrichtigen Arbeiterkünstlers" (354), wie auch seine antiakademische, pastose Malerei viel mehr seiner individuellen Realität entspricht als etwa die zeitgleiche akademische Glattmalerei.

Wie Courbet schließlich in der zeitgenössischen Porträtkarikatur dargestellt wird und wie der sich selbst vermarktende Künstler dieses Image formende Medium für sich und seine Belange zu nutzen verstand, ist Thema des letzten Kapitels. In ihrer Schlussbetrachtung gelingt der Autorin eine abschließende Beurteilung von Courbets äußerst facettenreichen Selbstporträts, insbesondere im Hinblick auf völlig neu erprobte Formen der Selbstdarstellung, die darüber hinaus eine Fortführung in Bildnissen nachfolgender Künstler, wie etwa Ferdinand Hodler, Pablo Picasso und Paul Klee, erfuhren.

Bei der Lektüre der Schlussbetrachtung wird dem Leser erst richtig bewusst, wie fein verwoben Künstler, Œuvre und die gerade zu dieser Zeit sich schnell veränderte Lebenswelt - im künstlerischen, literarischen und politischen Sinne - im Laufe des 19. Jahrhunderts waren und wie selbstbewusst und autonom Courbet mit seinen Selbstdarstellungen sich darin zu bewegen verstand.

Abschließend lässt sich festhalten, dass Marchal mit ihrer kontextorientierten und komparatistischen Herangehensweise eine an vielen Stellen Neuland erschließende, hervorragende Dissertation gelungen ist. Sie würdigt damit Courbets wegweisende Leistungen auf dem Gebiet der Selbstdarstellung auf eine äußerst vielschichtige und präzise Art und Weise. Die durchweg auf hohem wissenschaftlichem Niveau gehaltene Arbeit ist allerdings eher dem vorgebildeten Fachmann als einem breiten Publikum zu empfehlen - nur dann kommt der Leser in den vollen Genuss dieser spannenden Arbeit.


Barbara Palmbach

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Empfohlene Zitierweise:

Barbara Palmbach: Rezension von: Stephanie Marchal: Gustave Courbet in seinen Selbstdarstellungen. , München: Wilhelm Fink 2012
in: KUNSTFORM 14 (2013), Nr. 3,

Rezension von:

Barbara Palmbach
Starnberg

Redaktionelle Betreuung:

Ekaterini Kepetzis