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examen gemacht, wenn der Vater ihr nicht so plötzlich entrissen worden wäre. Unten, in Calabrien, hatte man ihn während der Wahlen ermordet, nicht aus persönlichem, sondern aus politischem Haß. Der Baron Barni, dessen treuer und eifriger Sekretär der Vater gewesen, hatte später, nach seiner Wahl zum Abgeordne ten, die vereinsamte Doppelwaise in sein Haus aufgenommen, um sich in den Augen seiner Wähler als dankbarer und wohltäti ger Mensch zu bespiegeln. So war Raffaella nach Rom gekommen. Ihre Stellung im Barnischen Hause war etwas unsicher; man behandelte sie als Familienmitglied, aber eigentlich versah sie die Obliegenheiten einer Erzieherin der jüngeren Kinder, auch ein wenig die einer Gesellschafterin der Frau Baronin; alles ohne Gehalt, selbst verständlich. Sie arbeitete; der Baron aber sonnte sich im Gefühl seiner guten Tat. Dies alles drückte sie damals gar nicht; sie arbeitete ja so gerne, mit frohem Herzen und fleißigen Händen, um sich die väterliche Zuneigung des Mannes zu er werben, dessen Haus sie in Schutz ge nommen hatte. Denn sie hegte die ge heime Hoffnung, daß diese uneigennüt zige, freudige Arbeit zusammen mit dem Blutopfer, das ihr Vater gebracht, eines Tages den Widerstand des Barons würde besiegen helfen, wenn Richard, der älteste Sohn, ihm seine Liebe zur armen Waise würde gestehen können. Richard hatte es versprochen; oh, er zweifelte nicht daran, daß der Vater nachgeben würde, aber jetzt freilich war es noch unmöglich, ihn zu bitten; Richard war erst neunzehn Jahre alt, mitten in seinen Studien, nein, er hatte wirklich nicht den Mut, sich seinen Eltern zu eröffnen; es war schon besser, man wartete noch einige Jahre... Warten, warten ... aber war es möglich zu warten, unter einem Dach, immer nebeneinander, zu warten nach so viel Zärtlichkeiten, Ver sicherungen, Schwüren...? Die Leidenschaft hatte Raffaella blind gemacht. Und als schließlich die Folgen nicht mehr zu verbergen waren, hatte man sie davongejagt. Einfach hinausgeworfen, ohne Erbarmen, ohne die geringste Rück sicht auf ihren Zustand. Der Baron hatte an ihre alte Tante geschrieben, sie sollte sofort kommen und die gefallene Nichte mit sich nach Calabrien nehmen, er wollte sich die Sache eine kleine Rente kosten lassen; aber die Tante beschwor ihn, wenigstens zu warten, bis die Niederkunft in Rom erfolgt sei, denn sie hatte Angst vor dem Skandal in der kleinen Stadt. Barni hatte nachgegeben unter der Bedingung, daß sein Sohn nichts davon erfahren dürfe. Nach der Entbindung hatte Raf faella nicht nach Calabrien gewollt; der wütende Baron drohte mit der Entziehung der Rente, stellte sie auch nach dem Selbst mordversuch tatsächlich ein. Richard war nach Florenz gegangen; sie begann bei einer Schneiderin als Lehrmädchen zu arbeiten, um sich und die Tante zu er halten. Dann verging ein Jahr, Richard war wieder in Rom, aber sie machte gar keinen Versuch ihn wiederzusehen. Da das gewaltsame Experiment nicht gelungen war, wollte sie nun langsam, nach und nach, zugrunde gehen. Die Tante hatte die Geduld verloren und war nach Calabrien zurückgekehrt. Es war jetzt einen Monat her, daß Raffaella im Hause der Schnei derin, bei der sie nähte, ohnmächtig zu sammengefallen war; dann hatte man sie 92