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Raffaella hatte ihnen nachgeblickt, bis sie zwischen der langen Bettreihe ver schwunden waren; dann blieb sie mit star ren, weitgeöffneten Lidern liegen. Nannina, die Nachbarin, begann zu lachen. „Was schaust du denn so komisch?“ „Ach, nichts.. Dann lächelte sie auch und streckte sich, das Herz klopfte ihr, als wollte es aus der Brust springen. Die Oberschwester kam und forderte Nannina auf, sich fertig zu machen, da der Professor sie zur Demonstration rufen ließ. „Was wollen sie dort drinnen mit mir machen?“ fragte Nannina. „Dich fressen! Was denn sonst?“ ant wortete die Oberschwester. „Heute ist die Reihe an dir, morgen an einer anderen, sie kommt an jede. Du wirst ja morgen ent lassen.“ Raffaella schauderte es bei dem Gedan ken, daß die Reihe auch an sie kommen könnte. Lieber Gott, in diesem elenden, herabgekommenen Zustand sollte sie sich vor Richard zeigen? Wenn die Kollegen etwas wüßten, würden sie sicher zu ihm sagen: „Was, mit diesem kleinen Gerippe hattest du dich eingelassen?“ Wäre das eine Rache gewesen? Aber sie wollte sich ja nicht rächen. Und doch, als nachher Nannina zurück kam, mit der Landkarte auf ihrem Körper, und erklärte, was man alles mR ihr ge macht hatte, besann sich Raffaella plötz lich eines anderen. Sie wollte auch hinein; und nun erwartete sie zitternd vor Unge duld die Studenten. # Endlich gegen zehn Uhr kamen sie. Richard und die Studentin Seite an Seite, wie neulich. Sie hingen mit den Augen an einander und lächelten. „Soll ich mich ankleiden?“ fragte Raf faella in fieberhafter Eile, als jene eben am Saalende erschienen. „Gott, die Eile! Bleib nur liegen!“ be fahl die Oberschwester. „Wir müssen warten, bis der Herr Professor dich ver langt.“ Aber rein, als hätte sie bloß gesagt: „Ja“, begann Raffaella, sich unter der Decke hastig anzukleiden. Sie war fix und fertig, als man sie holen kam. Totenblaß, an allen mageren Gliedern bebend, mit aufgelösten Haaren, glänzen den Augen und immer lächelnd betrat sie den Hörsaal. Richard Barni stand neben der Studentin und sprach auf sie ein. Er bemerkte Raffaella nicht; diese aber, ver schüchtert zwischen so vielen jungen Män nern, suchte seinen Blick zu erhaschen und hörte nicht, daß der Professor rief: „Hierher, hierher, Kleine!“ Da wandte Barni sich um und sah in das glühende Gesicht, das ihn unverwandt an starrte. Er erblaßte bis unter die Haar wurzeln, und seine Züge verfinsterten sich. „Na also, wird’s?“ rief der Professor wieder. „Hierher doch!“ Raffaella hörte die Studenten lachen und fuhr zusammen; sie sah, daß Richard sich am äußersten Ende des Saales in eine Fen sternische zurückzog. Sie blickte hilflos um sich, lächelte ein kleines, nervöses Lächeln und fragte: „Was soll ich tun?“ „Hier, hierher, leg dich da hinauf!“ sagte der Professor und deutete auf einen hohen Tisch, der mit einer Art Matratze gepolstert war. Fortsetzung auf Seite 166