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offiziellen Medizin noch zu wenig berück sichtigt und leider nur dem Kurpfuschertum zu unlauteren Zwecken überlassen. Es mag vielleicht auffallen, daß in diesem Zusammenhang nie der Begriff des Wil lens erwähnt wurde, obgleich wir gewohnt sind, ihm den Vortritt zu geben. Die moderne Psychologie, besonders die franzö sische Schule von Nancy, hat den Willen als leitendes Moment unseres Daseins in gewissem Sinne entthront und das Szepter der Einbildungskraft verliehen. Der Wille hat nach dieser Auffassung im „Schaltwerk der Gedanken“ nicht viel zu sagen. Wenn uns etwa der Name eines Be kannten nicht einfallen „will", nutzen alle Anstrengungen nichts, Lassen wir die Sache 800 eine Weile auf sich beruhen — springt er plötzlich aus dem Kasten unserer Erinne rung. Der Psychologe B a u d o u i n be hauptet sogar: „Wenn Wille und Einbil dungskraft miteinander ringen, behält die Einbildungskraft die Oberhand, und zwal ausnahmslos." Jede Suggestion bedingt eine „Einengung" des Bewußtseins und der Urteilskraft, fer ner gehört sie in gesteigerter Form als Hypnose bereits zu den krankhaften Phänomenen, deren Grundlage eine hysteri sche Konstitution oder besondere Labilität des Charakters fordert. Diese krankhaften Steigerungen, wie sie Medien, Übersensible zeigen, gehen uns hier nichts an. Aber in den BezirKen des Alltags begegnen wir un endlich vielen suggestiven Erscheinungen, die sich, obgleich sie das Pathologische streifen, doch als normale und vielleicht notwendige Kräfte erweisen, solange sie ge staltend und nicht entartend den Lebens weg beeinflussen. Außer in der Kunst und Religion zeigt sich das suggestive Element im Liebes- leben des Menschen besonders wirksam. Jede Liebe, soweit sie nicht nur an die Sexualität gebunden bleibt, ist „platonische Liebe , belebt von der Einbildungskraft. Dante, der B e a t r i c e nur einmal in seinem Leben gesehen hatte, trug ihr Bild mit sich fort. Er gestaltete aus dieser Liebe die „Divina Commedia", er durchschritt die Hölle bis zum Throne des Himmels, wo Beatrice ihn erwartete. Der geistige Rausch Hölderlins gestaltete aus Susettc G o n t a r d die dichterische Vision der Dio- tima. Doch in der Liebe wird jeder zum Dichter. Wir sehen im Liebesrausch nicht mehr die Wirklichkeit der geliebten Person, sondern die erdenferne Göttin, die sich unsere Vorstellung geformt hat. Nur da durch werden so viele Tragödien der Liebe verständlich, daß, wenn die magische Kraft nachläßt, Traum und Wirk lichkeit so erhebliche Unterschiede auf weisen. Eine Dame erzählte mir die Geschichte ihrer Ehe. Sie war als junges Mädchen mit einem Manne bekannt, zu dem sie keinerlei innere Beziehungen hatte. Doch während einer langen Zeit sagte der Mann jedesmal beim Abschied die suggestiv wirkende Formel: ,,Sie werden mich doch heiraten!" Bis sie schließlich selbst daran glaubte, ihn heiratete, um nach kurzer Zeit wieder ge schieden zu werden.