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PARISER CAVEAUX VOT. HERMANN LINDEN I n der Phantasie des Auslandes führt der Pariser „Caveau“ eine romantische Existenz, die selbst durch die aufrichtigsten Berichte nicht erschüttert werden kann. Die Hauptschuld an dieser Entstellung trägt der Film, der nicht davon abläßt, das Pariser Kellerlokal immer wieder als Milieuplatz sittlicher Anarchie auf die Leinwand zu drehen. Wenn man bedenkt, daß der Caveau ein billiges Lokal ist, das kleine Tanzlokal der Masse, wird man begreifen, wie weit dieser Caveau in Wahrheit von seinem Verruf entfernt sein muß, denn be sonders in Paris sind die „Vergnügun gen“ (Amüsements) phantastich teuer, nur mit dem Dollar zu erreichen. Auch gibt es dafür ganz andere Häu ser, die viel zu elegant sind, um ihren Betrieb in Kellern einzurichten. Auch legt man dort keinen Wert auf die „Apachen“; sie gehören zum Caveau, genauer gesagt, zum künstlichen Caveau. Die künstlichen Caveaux: Sie liegen auf den Boulevards und in den Seitenstraßen des Montmartre. Kurze, steinerne Treppen von keinen Teppichen belegt, führen zu ihnen hinab. Die Eingänge, kunstlose Brettertüren, haben ein uraltes, ver wittertes Aussehen. Man hat sich sehr Erna Frank Radierung darum bemüht, das Alter echt er scheinen zu lassen. Einige der Caveaux haben ihre Türen sogar mit Weißbindergerüsten umstellt. Sie erscheinen dadurch, wie sie erscheinen wollen, etwas wild, etwas schmutzig, sehr primitiv, aber sehr originell und, vor allen Dingen, ohne jeden Stil. Stil geht gegen ihren Stil. Sie gebärden sich als die Asyle der Ungebundenheit. Etikette und Konvention wird in ihnen verlacht, es herrscht allein die Natur. Nach dieser Richtung zielt die Regie. Das tatsächliche Milieu jedoch ist von solcher Harm losigkeit, daß allein die heftig geschminkten Gesichter der Französinnen daran erinnern, daß man in Paris ist. Das Lokal könnte auch in Köln sein oder in Königsberg, das heißt: nein, doch nicht ganz. Nur dem gänzlichen Mangel an Exzessen nach. Diese Ziehharmomkaspieler gibt es in Deutschland nicht. Die Ziehharmonika steht überhaupt auf dem Montmartre in großen Ehren. Sie wird mit ganz fulminantem Schmiß gespielt. Sie bringt in die sanfte Kindermusik der Saxophone die richtige, abenteuerliche Melodie. 258