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DER UNFUG DER NEUDEUTSCHEN TANZKUNST Von KLAUS PRINGSHEIM „Sirrende, pfeifende, grünlich schwillende Luft: Raumton. Im Hintergründe zittert der Chor der Geister herein und stellt sich flüstrig flackernd zum Altäre auf... Von den schreienden Glocken angefallen, reißt sich der Frauenchor in fliehenden Haufen vom Platz Lin Schrei, in dem der Chor der Geister hilflos zerflackt. Als brächen die Horizonte klirrend auseinander, rüttelt ein wütendes Beben an den Ufern der Welt: der Herabsturz aller Glocken und Turme wird jetzt lautlich-dramatische Aktion.“ Kein langes Rätselraten, das sind Regieanweisungen aus Albert Talhoffs „Totenmal“. Das Ganze nennt sich : Dramatisch-chorische Vision für Wort, Tan^, Ticht. Die Uraufführung war in München. Was es mit den Glocken und* Türmen für eine Bewandtnis hat, darüber gibt der Dichter in einem Lehrsatz aus seiner „Dramaturgie der Sprache“ erschöpfend Auskunft: „Jeder Puchstabe ist ein Glockenturm mit überweltlichem Geläute .“ Soviel — mehr ist darüber nicht zu sagen — über Talhoffs Totenmal. Wie aber steht dazu Mary Wigman ? Sie hat es drucken lassen: „Wie ich zu Albert Talhoffs Totenmal stehe.“ Kurz gesagt, erblickt sie darin den ersten groß angelegten Schritt zum eigentlichen Einbau des tänzerischen Wesens in die theatralische Gestaltung im Sinn einer synthetischen Form. Darum: „Zum ersten Male seit meiner langjährigen Arbeit auf dem Gebiete des Tanzes habe'ich FiTu zurückgestellt und mich bewußt als dienender Faktor in die Ideenwelt des Talhoflschen Werkes eingegliedert; dieser Verzicht auf eigenschöpferische Tätigkeit wurde mir allerdings dadurch erleichtert, daß Talhoff Entwurf und Aufbau der tänzerischen Vor gänge selbst ganz Idar gesehen und die tänzerische Komposition in einer Form niedergelegt hat, ehe in ihrer Bildhaftigkeit wie eine gedichtete Choreographie dasteht.“ Und : hier mitzuarbeiten, ist ihr eine Pflicht, „die eine junge tänzerische Generation von mir als ihrer Vorkämpferin fordern kann“. Mir als Vorkämpferin, eigene Ideenwelt zurückgestellt, Verzicht auf eigen- schöpferische Tätigkeit... das ist der parvenühafte Ton, den früher Operetten librettisten hatten, und in dem heute nur noch Filmdrehbuchschreiber von sich reden. Aber das ist gar nichts gegen das grauenhaft verschmuste, verschmockte Fach-Idiom, dessen sich heutige Tanzkritiker im Verkehr mit ihren Lesern bedienen. Man braucht nur irgendeine berliner Zeitung in die Hand zu nehmen. In der Provinzpresse treiben sie’s noch ärger. Tanz, man sollte meinen, daß das eine Sache ist, gegen die es keine ablehnenden Gefühle gibt; vulgär ausgedrückt: jeder ist gern dabei. Diesen neudeutschen Tänzern ist es mit Hilfe ihrer organisierten Propheten und Propagandisten gelungen, alle natürlichen Gefühle des Wohl wollens, die wir für sie hätten, in ihr unhöflichstes Gegenteil zu verkehren. Die Zahl derer, die sich für ihre Sache eine Art von verzweifeltem Bildungsinteresse abschwatzen lassen, ist verschwindend. Nie hat der Kunsttanz so Resonanz gehabt wie heute , da er sich als Tanzkunst gar so wichtig macht. Diese tanzenden Neudeutschen, denen „altes Ballett“ ein Greuel ist, bildfen eine Welt für sich. Sie haben ihre Kongresse, ihre Richtungen, ihre Konflikte und Polemiken; und selbstverständlich, denn sie sind ein Stückchen heutige Welt, ihre