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Uebersetzung meines „Narziß“ gerade fertig geworden, sei mit ihr zu frieden und hätte sie mit großer Freude einigen Freunden vorgelesen, die in einem Schlößchen in der Umgegend von Lausanne zusammen gekommen seien, sie zu hören. Er faßte mich unter und führte mich sacht zu den großen Bäumen des Parks von Anthy. Er wollte mich über die Fortsetzung meines „Narziß“ befragen, über den besonderen Sinn, den ich diesem Mythus gäbe ... Ich sprach, und er nahm teil an meinen Worten, an meinem Unterfangen, für ihn allein existieren zu lassen, was noch nicht existierte und vielleicht niemals existieren wird, nahm teil, wie ein Dichter teilnimmt an sich selbst, wie jemand, der innen steht und selbst rings umdrängt ist von den Einfällen, Verführungen, Flemmungen, Erleuchtungen, Willensregungen, Entschließungen und Verzichten, von all dem, was das wahre innere Leben eines Gedichtes ausmacht. Welch köstlicher Tag! Es wurde Zeit, sich zu trennen. Schon von weitem kündigte das weiße Schiffchen sein Kommen an durch das Ge räusch seiner Radschaufeln im großen Schweigen der Stille, lief das Ufer an, nahm den Freund, entzog ihn uns, trennte ihn auf immer von unseren Händen, die ihn grüßten, unseren Augen, die ihm lächelten, unserem Geiste, der noch zwischen Frage und Antwort schwang, und es war nichts mehr da als ein wenig Schaum und ein verschwebender Rauch . Aber all dies ist nur mein Verlust und meine persönliche Trauer. (Und es ist beinahe unnötig, von meiner Dankbarkeit für denjenigen zu sprechen, der jene bewunderungswürdige Uebersetzung meiner Werke unternommen hatte.) Ich muß etwas mehr sagen, Erheblicheres, Um fassenderes: In der gedankenvollen Klausur seines Einsiedlerturms von Musot, wohin er sich nach vielfachem Schweifen aus Gründen der Gesundheit und aus Liebe zur Meditation eingeschlossen hatte, war Rilke allmählich, unmerklich zum Bürger des intellektuellen Europa geworden. Diesen großen Poeten, einen der im edelsten Sinne ruhmreichsten Dichter der germanischen Welt, verband eine starke Wahlverwandtschaft mit der slawischen Rasse, er war ein tiefer Kenner Skandinaviens, und gegen den Westen hin stand er der französischen Kultur so nahe, daß ich ihn leicht verlocken konnte, Gedichte in unserer Sprache zu schreiben und zu ver öffentlichen. Ihn verloren haben, heißt einen verloren haben, der in sich vereinte nicht nur die Fassungskraft für alles Schönste, was Europa hervor gebracht hat, und die vertiefte Kenntnis der Reichtümer, die aus unserer Verschiedenheit kommen, sondern der auch die nahe, schon schöpferische Sensibilität besaß: Die Seele einer künftigen Zeit. . . (Deutsch von Franz Lepptnann.) 82