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und „Dada ist eine jungfräuliche Mikrobe“. Man spielte noch drei kleine Theaterstücke von Soupault, Breton und Ribemont-Dessaignes und „Das erste himmlische Abenteuer des Herrn Antipyrin“, das ich 1916 geschrieben hatte. Dieses Stück war ein Boxmatch mit Worten. Die Personen rezitierten ihre Rollen unbeweglich in Säcken und Koffern, und man kann sich leicht die Wirkung vorstellen, die das in einer grünlichen Beleuchtung auf das Publikum ausübte. Man vermochte nicht ein einziges Wort von dem ganzen Stücke zu verstehen. Fräulein Hania Routchine, die scharmante Sängerin, heute die Frau von R. Dorgeles, hatte am Schlüsse des Stückes ein sentimentales Lied von Duparc zu singen. Das Publikum nahm das für eine Profanation oder dachte, daß diese so einfache Sache, die einen Kontrast markieren sollte, hier nicht am Platze wäre — jedenfalls sparte es nicht mit seinen Meinungsausdrücken. Fräulein Routchine war an die großen Erfolge des „Vaudeville“ gewöhnt, begriff die Situation nicht und verzichtete nach dem Austausch einiger Höflichkeiten mit dem Publikum darauf, ihr Lied zu Ende zu singen. Zwei Stunden lang hatten wir Mühe, sie zu beruhigen, denn sie weinte fassungslos. Beim Dada-Feste im Saale „Gaveau“ war der Skandal ebenso groß. Zum ersten Male, seit die Welt steht, warf man auf die Bühne nicht nur Eier, Salatköpfe und Kleingeld, sondern auch Beefsteaks. Das war ein sehr großer Erfolg, das Publikum war sehr dada. Wir hatten schon gesagt, daß die wahren Dadaisten gegen Dada waren. Philippe Soupault trat als' Zauberkünstler auf. Unter der Beschwörung des Papstes, Clemenceaus und Fochs flogen Kinderballons aus einem Koffer und stiegen zur Decke. Paul Souday schrieb in seiner Kritik im „Temps“, daß in der Tat aus einer gewissen Entfernung die Gesichter dieser beschworenen Persönlichkeiten auf der Oberfläche der Ballons zu erkennen gewesen wären. Der Saal war dermaßen erregt und die Atmosphäre so geladen, daß noch manche andere Suggestion einen Schein von Realität gewann. Ribemont-Dessaignes zeigte einen unbeweglichen Tanz, und Fräulein Buffet interpretierte dadaistische Musik. Eine Momentphotographie, bei Magnesiumlicht während eines Stückes von mir für die Zeitschrift „Co- moedia“ aufgenommen, zeigte alle Personen des Saales mit erhobenen Armen und zum Schreien geöffneten Mündern. Alle Pariser Persönlichkeiten waren anwesend. Mme. Rachilde hatte in einer Zeitung einen Artikel geschrieben, in dem sie einen Poilu aufforderte, uns mit Revolverschüssen zu töten. Das hat sie nicht gehindert, ein Jahr später in dem von uns organisierten Prozeß Barres als unsere Verteidigerin aufzutreten. Sie sah in uns keine Gefahr mehr für den französischen Geist. Man hat uns nicht getötet bei Gaveau, aber alle Journalisten haben es in ihren Referaten zu tun versucht. Man hat Spalten geschrieben, um zu sagen, daß man nicht mehr von Dada sprechen dürfe, was Jean Paulhan, den feinsinnigen Schriftsteller und Direktor der „Nouvelle Revue Franqaise“, zu dem Sätzchen veranlaßte: „If you must speak of Dada you must speak of Dada, If you must not speak of Dada you must still speak of Dada.“ Unter den anderen dadaistischen Revuen hatte „Cannibale“ einen großen Erfolg. Sie arbeitete den durch und durch unliterarischen Geist heraus, wel- 105