Volltext Seite (XML)
Seite 36 Das Neue Rußland Nr. 1/2 Kräften fortführen, es wurde unter dem Namen „Russisches Institut für Kunstgeschichte“ verstaatlicht, und Zubov wurde zu seinem ersten Direktor ernannt. Bis Dezember 1624 bekleidete er diesen Posten. Sein Nachfolger wurde der Verfasser dieses Aufsatzes. Diese Personalveränderung bedeutete zugleich einen ziemlich schroffen Richtungswechsel. Zubov und seine Freunde betrieben Kunstwissen schaft als persönliche Liebhaberei — wenn auch durch aus nicht nach oberflächlicher Liebhaberart. Wissen schaft war „freie“ Privatsache —.da hatte der Staat und die Allgemeinheit kein Recht dreinzureden. Kunst war „Privatsache!“ Mit der Oktoberrevolution wurde das anders. Kunst ist ein soziales Phänomen, Kunst ist ein Produkt des gesellschaftlichen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens der Menschen, Kunst ist ein mächtiges Verständigungsmittel — ja ein Regierungs mittel. eine Agitationsmacht allerersten Ranges. Die Kunstwissenschaft wurde zur Staatsangelegenheit. Nur so ist das merkwürdige Phänomen zu erklären, daß in einem von blutigen Bürgerkämpfen durchtobten Lande, in dem es jahrelang an dem Nötigsten gebrach, eine — nach europäischen Begriffen so abstrakte und lebensferne — Wissenschaft, wie die Kunstwissenschaft, freudig emporblühen konnte. Die hohe Kultur und Kunstliehe unseres \ olkskommissars für Aufklärung A. Lunatscliarsky hat natürlich das ihrige getan, aber ohne die dargelegten objektiven Vorbedingungen wäre Lunatscliarsky einfach nicht durchgedrungen. Unsere Kunstwissenschaftler erfaßten den Zusammen hang durchaus nicht sogleich. Mit ungläubigem Staunen beobachteten sie die nie dagewesene grandiose Organi sation des Denkmalschutzes, das W aehsen der Aluseen, die Gründung kunstwissenschaftlicher Institute. Sie stellten sich alle dem Staate zur Verfügung - seihst diejenigen, welche der neuen Gesellschaftsordnung wenig A r erständnis und wenig Sympathie entgegen brachten. Daß der gesamten Kunstwissenschaft nun ganz neue Aufgaben erwuchsen, welche neue Arbeits methoden erheischten, ahnten wenige. Im Zubovschen Institut blieb vorerst alles scheinbar beim alten. Der neue „Geist der Zeit“ machte sich jedoch auch hier bemerkbar: das Studiengebiet wurde erweitert, indem nicht nur neue Gebiete der plastischen Künste als er forschungswert entdeckt wurden (so die ältere russische Kunst), sondern auch neue Fakultäten für Musik wissenschaft, Theaterwissenschaft und Literaturwissen schaft gegründet wurden (1920). Damit war der Schritt getan, welcher das Institut zu dem machte — dessen der Staat bedurfte. ,,ais una, species mille!“ — alle Künste, so verschieden sie aussehen mögen, sind doch eins, und eine wissen schaftlich solide Kunsttheorie kann nur auf dem Studium aller Künste aufgebaut werden, nicht auf Spezialstudien aus dem Bereich etwa der Alalerei oder Literatur oder Musik. Das Zusammenarbeiten aller vier Abteilungen konnte bedeutsame Resultate liefern. Diese Resultate sind ausgeblieben, weil ein wirkliches Zusammenarbeiten ausblieb: die vier Abteilungen ar beiteten nebeneinander, aber nicht miteinander, ob gleich das Institut 1921 ein neues Statut erhielt, welches das Zusammenarbeiten geradezu vorschrieb. Es ist eben aller Anfang schwer und die Macht alther gebrachter Anschauungen und Arbeitsmethoden zu groß. Ende Dezember 1924 wurde eine Personalverände rung vorgenommen und der Aerfasser dieser Zeilen an die Spitze des Instituts gestellt. Im Laufe des Jahres 1925 haben wir es versucht, die gesamte For schungsarbeit auf neue Geleise zu stellen. Zunächst wurde ein Soziologisches Komitee geschaffen, welches die Arbeiter aller vier Spezialabteilungen vereinigen sollte, d. li. alle die Fragen zu behandeln hatte, welche alle Künste betreffen. Dieses Komitee bildete, um sich nicht im uferlosen zu verlieren, vier Sektionen: für allgemeine Alethodologie und Theorie, für „Ok- t oherkunst“, für Kinderkunst, für Aluseums- wesen. \A arum gerade diese Themata gewählt wurden, ist wohl klar: die Kinderkunst bietet uns den Ent wicklungsprozeß des Kunstschaffens in seiner reinsten und allgemeingültigsten Form, reine Dialektik; die „Oktoberkunst“, d. li. die durch unsere Oktober revolution hervorgebrachte ganz eigenartige Alassen- kunst (grundverschieden von der bürgerlichen Künstler kunst !), zeigt das Prinzip des historischen Alaterialis- mus in maximaler Dynamik und in ausgeprägtester Gestalt; Aluseuinsfragen besitzen bei uns ein besonders aktuelles Interesse, und Methodologie der Kunst forschung und Theorie der Kunst sind das Endziel unserer ganzen Arbeit. Hier fehlt nur ein sehr wichtiges Thema: die Bauernkunst, welche uns das Gesetz des historischen Materialismus in seiner maximalen Statik erkennen lehren könnte — und tatsächlich haben wir schon im Herbst 1925 unsere Pädologische Sektion mit derjenigen für Alethodologie und Theorie vereinigt und an ihrer Stelle eine Sektion für nordisch russische Bauernkunst gegründet, welche energische Arbeit entwickelt. Da unser Soziologisches Komitee keinen eigenen Personalbestand besitzt, sondern aus den Spezialisten aller vier Abteilungen besteht, ist seiner Arbeit A ielseitigkeit gesichert. Die Leser des „Neuen Rußland sind schon durch Artikel unserer Alitglieder (Prof. O. VI aldhauer und Prof. A. G wosdeff), sowie durch meinen eigenen Ar tikel im vorigen Heft über eine von dem Institut ge plante Ausstellung altrussischer Alonumental- m al er ei über unsere Arbeit informiert. Ich kann mich natürlich hier nicht in Einzelheiten einlassen, möchte alier hervorheben, wie wir kunstwissenschaftliche Fragen stellen und wie wir diesen Fragen beizukommen suchen. Oben sind schon einige Themata genannt worden, denen wir die größte Bedeutung beimessen: „Oktober kunst“, Kinderkunst, Bauernkunst — alles Kunst gattungen, die sonst von den Kunstwissenschaftlern vernachlässigt zu werden pflegen, weil sie vom idea listisch-ästhetischen Standpunkt einfach bedeutungs los sind. Die europäische Kunstforschung ist eben mit rühmlichen Ausnahmen, natürlich — noch immer zum großen Teil auf Höchstleistung und In dividualität des Einzelkünstlers eingestellt. Wir nun im Institut haben es ganz bewußt auf das Studium gerade der Entwicklungsphasen abgesehen, wo die Alassen mit elementarer Wucht die Grundsteine neuen Lebens schaffen, auf denen dann, in späteren Phasen, die Einzelkünstler weiterhauen werden. Ja. selbst beim Studium derjenigen Perioden, wo Künstlerkunst vorherrscht, vergessen wir weder die Alassenproduktion, aus welcher die schöpferischen Genies hervorragen, noch den Alassenkonsumenten, der das Genie erst zur Geistesmacht erhebt. Es ist nur folgerichtig, wenn unsere Theaterhistoriker sich damit beschäftigen, die Methoden auszuarbeiten, wie man die Reaktion des Theaterpublikums auf das Schauspiel genau fest stellen kann; wenn unsere Literarhistoriker sich mit dem Studium der landläufigen Zeitschriften- und