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Seite 16 Das Neue Rußland Nr. 1 2 Vorteil ziehen zu können. Solchen gemeinsamen Interessen entsprang denn auch eine weltliche Zeitung in vollem Sinne des Wortes. Es war die ..Saratower Deutsche \olkszeitun g“, die seit dem Oktober 1906 erschien. Die Bourgeoisie stellte die Mittel zur Herausgabe und die In telligenz die Kräfte. Alle Mitarbeiter der Zeitung lieferten ihre Artikel unentgeltlich. Der Kampf gegen die monarchistische lutherische und katho lische Geistlichkeit, die in ihren Blättern gegen die Revolution polterten, wurde mit großer Be geisterung geführt. Als Kind der Revolution kritisierte die Zeitung mit großer Freimütigkeit die höheren und niederen Regierungsanstalten, was ihr zwar einige Male Strafe zuzog, aber auch gleichzeitig ihr Ansehen hob. Ihre beständige Leserzahl wuchs über 5000. Die Zeitung organi sierte auch unter der Leitung des Agronomen II. Kling eine landwirtschaftliche Beilage „Unser Landwirt“. Auch eine literarische Beilage „Der Hausfreund“ wurde gegründet. Später wurde die „Saratower Deutsche Volks zeitung“ direkt in die „Volkszeitung“ verwandelt. Einen langwierigen Kampf hatte die V olks- zeitung gegen das Sektenorgan „Morgenstern“ zu führen, das unter der Leitung des ehemaligen Mittelschullehrers G. Bauer stand. Im Jahre 1912 erachtete die ev.-luth. Pastoren konferenz es für notwendig, eine frische Strömung in den Sumpf der lutherischen Kirchenpresse zu leiten. Auf Beschluß der Synode wurde der „Evangelische Gemeindebote“ in Katharinen stadt (Marxstadt) unter der Redaktion des Pastors Kuhlberg gegründet. Dieses Blatt war ebenso monarchistisch, ebenso reaktionär wie die übrigen kirchlichen Blätter. ln den Kriegsjahren gingen alle diese Presse organe infolge der Deutschenhetze ein. Am längsten hielt sich die „V olkszeitung“, die nach wie vor zweimal wöchentlich erschien, aber nun schon jeden fortschrittlichen Gedanken vermissen ließ. Im Herbst 1916 wurde jedoch auch sie von der Regierung verboten. Bis zum Frühjahr 1917 waren die Kolonisten überhaupt ohne Zeitung. Ein nettes Aufblühen der Wolgadeutschen Presse war erst wieder nach der Februarrevolution mög lich. Aber nach der Revolution kam endlich zum V orschein, was sich schon lange vor dem Krieg angezeigt hatte, nämlich die Trennung der revo lutionären und bonrgeoisen Strömungen. Alle revolutionären Strömungen mündeten in den Wol gadeutschen Sozialistenverband, in dem sowohl die Bolschewiki und Menschewiki, als auch die verschiedenen Richtungen der Sozial-Revolu tionäre aufgingen. Der Ausschuß, den der Bund der Bourgeoisie, der Geistlichkeit und der bürgerlichen Intelligenz noch vor dem Sturz des Zarismus geschaffen hatte, um durch „alleruntertänigste“ Bitten ihre Inter essen gegen das zarisclie Liquidationsgesetz zu schützen, begann nun der Klassenkampf im Inneren der Kolonien. Dieser Ausschuß mit dem Großkapitalisten Schmidt, dem Pastor Sclileuning und dem Rechtsanwalt Justus an der Spitze, erließ einen Aufruf an alle Kreis- und Kolonie ämter, ihre Vertreter auf einen alldeutschen Kolonistenkongreß nach Saratow zu entsenden. Es war klar, welches Aussehen der Kongreß bekommen mußte, der noch von den alten za ristischen Dorfbehörden vorbereitet wurde. Aul dem Kongreß spielten die Dorfhändler, die Gut- besitzer und die Geistlichkeit die herrschende Rolle. Hinsichtlich des Pressewesens wurde be schlossen, 10 Kopeken von jedermann zur Grün dung einer Kolonistenzeitung zu erheben. Der anwesende Vertreter der Sozialistengruppe Ad. Emich, dem man das Stimmrecht versagte, wurde boykottiert. Gleichzeitig mit dieser Kolonisten- zeitung der man. um eine günstige Stimmung bei den Lesern zu erwecken, wieder den alten Namen „Saratower Deutsche Volkszeitung“ gab, erschien auch das Organ der Katharinenstädter Sozialisten gruppe „Der Kolonist“. V om ersten Tage ihres Bestehens an entbrannte ein heftiger Kampf zwischen diesen beiden Or ganen. Die Volkszeitung wurde hauptsächlich von den Dorfreichen abonniert, während def Kolonist offensichtlich die große Masse der Be völkerung hinter sich hatte. Ungeachtet der be vorzugten Stellung der V olkszeitung, für die die Behörden und die Geistlichkeit stark agitierten, hatte „Der Kolonist“ über 5000 Abonnenten. Aber auch „Der Kolonist“ war in parteipolitischer Hin sicht ‘kein ausgesprochenes proletarisches Blatt. „Der Kolonist“, der die sozialistischen und fort schrittlichen Elemente sowohl der lutherischen als auch der katholischen Bevölkerung um sich scharte, erhielt noch einen heftigen, unerbittlichen und zähen Gegner in den „Deutschen Stimmen“, die von der katholischen Geistlichkeit und der katholischen Bourgeoisie in Mariental mit den selben Zielen und Losungen herausgegeben wurde wie die VAlkszeitung. Das selbständige Auftreten war nur ein taktischer Schritt, um in der katho lischen Bevölkerung leichter den Fanatismus gegen die Sozialisten wecken zu können. Bis zu den Wahlen in die Gründerversammlung hatte sich die Lage soweit geklärt, daß die Hälfte der ^ äliler für die allgemeine sozialistische Liste stimmte, und das ungeachtet dessen, daß der „Kolonist nicht das offizielle Organ des Sozialistenverbandes, son dern nur einer Ortsgruppe war und gegen zwei erbitterte Gegner kämpfte, denen der Zweck die Mittel heiligte. V on anderen Presseorganen, die nach der Revo lution wie Pilze nach dem Regen emporschossen, nennen wir noch folgende: das ,,Deutsche V olks blatt“, das ein Organ für die kirchlichen Brüder darstellen sollte, sich aber nach der Revolution nicht entwickeln konnte; es erschien nur eine Nummer. Im Juli 1917 wurde der „Adventbote gegründet, der ein Organ der Sekte der Siebenten-