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„Jott sei Dank" glücklich hinter sich habe. So ein fach ist die Sache denn doch nicht. Es handelt sich hierbei viel weniger um einen der mit viel Emphase hinausposaunten Fortschritte, als um einen Gesinnungswandel, der im Zeitenwandel begründet ist. Es gab eine Zeit, und die Aelteren unter uns haben sie sogar noch miterlebt, da konnte man mit künstlerischen Mitteln leicht Sen sation erwecken. Vor gewissen Bildern in den Ausstellungen stauten sich die Menschen, und vor gewissen Plakaten stand das Publikum und schimpfte, lachte oder war begeistert. Man fand es unerhört, einen Himmel grün zu malen oder eine Frau violett, und ein Tier, das zwei Bäuche hatte wie ein Kentaur, war in hohem Maße ge eignet, das kunstverständige Publikum aufzu regen. Man ersieht aus alledem, daß es vielfach auch wieder nicht die Kunst war,die dieSensation entfachte, sondern das Dargestellte oder Be sonderheiten der Darstellung. Dem sei nun wie ihm wolle, jedenfalls erweckten diese Bilder und Piakate das Interesse der Allgemeinheit. Es gab Bilder und Plakate, die so populär waren, daß sie lange das Tagesgespräch bildeten und ihrenWeg durch sämtliche Witzblätter machten. Später er schienen dann die Aesthetiker auf dem Plan und bewiesen, daß ein gut gemalter Misthaufen ein besseres Bild sei als eine schlecht gemalte Staats aktion. Damit verleideten sie allmählich dem Publikum das Interesse, das es an der Kunst über haupt nahm. Der gemalte Misthaufen oder das Stilleben „Hering mit Pellkartoffel" fesselte eben das Publikum nicht, da konnten Misthaufen und Hering und Pellkartoffel noch so gut gemalt sein. Auch in der Gebrauchsgraphik wurden vielleicht doch zu viel gut stilisierte Heringe gemalt, die an sich Qualitätsarbeiten ersten Ranges gewesen sein mögen, die aber das breite Publikum nicht im geringsten lockten. Das Losungswort l’art pour l'art war ein schwerer Irrtum, noch gefährlicher wäre für die Beteiligten eine Gebrauchsgraphik für die Gebrauchsgraphik. Merkwürdig, wie leicht der Deutsche dem lendenlahmen und gedanken armen Formalismus verfällt. Der Gebrauchs graphiker ohne Photo-Apparat kann das jetzt schon mit ungemischter Schadenfreude am Re klamephoto konstatieren. Originelle Einfälle sind schon wieder äußerst selten geworden. Früher hat man der Retusche oft zu viel getan, heute glauben schon manche, ein unretuschiertes Photo sei an sich schon eine Leistung. Oder man legt ein Ei auf den Tisch, beleuchtet es von links oder rechts, photographiert das Ereignis und zeigt es der darob staunenden Mitwelt als jüngste Offen barung. Einmal ist so etwas ja ganz amüsant. Aber beim dritten oder fünften Male, selbst wenn noch ein paar Eier hinzukommen, wird’s banal. Die alten Stillebenmaler legten wenigstens zur Belebung ein bißchen Schnittlauch dazwischen. Und dann die auf Neue Sachlichkeit frisierten Eisenkonstruktionsphotos! Ha, wie modern! Daß bloß nicht etwa ein Baum mit drauf kommt, oder daß man den Turm oder die Maschine vollständig sieht — es wäre nicht auszudenken. Es ist ja verständlich, daß die freie Kunst auf die dienende abfärbt. Auch die Photographie kann man — mit den nötigen Einschränkungen — als eine dienende Kunst bezeichnen. In den langen Jahren des vorigen Jahrhunderts, da die Historienmalerei grassierte, kamen ihre Genien und allegorischen Gestalten auch in die Ge brauchsgraphik. Sie hielten — je nachdem — Hämmer oder Schriftrollen, Lorbeerkränze oder das Kunstwappen in den Händen und saßen mit Vorliebe auf Säulen oder wenigstens auf Kapi- tälen. Trotzdem darf man nicht vergessen, daß es damals die Plakate und Diplome von Nikolaus Gysis gab — in ihrer Art erlesene Meisterwerke. Die englische Gebrauchsgraphik bevorzugte die überschlanken Gestalten der präraphaelitischen Malerschule, während Frankreich das einzige Land war, wo der Impressionismus auch auf das Plakat übersprang. Heut leben wir in der Ge brauchsgraphik von den Nachwehen der Neuen Sachlichkeit. Als diese Kunstgattung Mode wurde, starb gerade ihr Begründer, Felix Valloton, der schon vor 35 Jahren so gemalt hatte. Auch in der Plakatkunst (besonders in Berlin) haben wir vor dem Kriege ein neusachliches Blütezeitalter er lebt. Man sprach damals mit Stolz vom Sach- p I a k a t. Sein Erfinder — vielleicht von Valloton angeregt — war Lucian Bernhard. Wie schnell das alles vergessen wird! Es ist wahr, die Gebrauchsgraphik empfängt heut wenig Impulse von der Malerei, wie ja unsere Zeit sich überhaupt gelangweilt von der Kunst abwendet. Sport und Technik sind die Losung. Hier gibt es noch Sensationen. Vor allem beim Sport. Denn auch in der Technik kriselt es schon. Eine Stagnation ist nicht zu verkennen. Epochale Erfindungen sind in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr gemacht worden. Man lechzt nach neuen Sensationen. Der freien Kunst dürfte man nicht empfehlen, dem Sensationsbedürfnis entgegenzukommen. Das wäre ein Sakrileg. Aber die Werbekunst? Sie ist doch nun einmal dazu da. 67 9 ■