Glanzvoller Stoff für Träume. Zur Faszination von Kunstseide in Magazinen, Film und Literatur der Weimarer Republik

Von Dr. Björn Weyand

Strümpfe, Autos und Romantik

»Gnädige Frau!«, heißt es in einer Anzeige, die im Juni 1929 im Ullstein-Magazin ›Uhu‹ erscheint, »[b]itte, lassen Sie sich ›Celta‹-Strümpfe vorlegen. Die reiche Auswahl an Farbtönen wird ein Entzücken für Ihren guten Geschmack sein. Fühlen Sie das Gewebe, beachten Sie den matten Seidenschimmer, und Sie werden verstehen, warum ›Celta‹-tragen gleichbedeutend ist mit dem Bewußtsein des Gut-angezogen-seins.« Hinzu kommt, dass die beworbenen Strümpfe »haltbar und vollkommen waschecht« seien.

Die Reklame erscheint prominent auf der Innenseite des Covers, ganzseitig gesetzt, ihr gegenüberliegend eine ebenfalls ganzseitige Anzeige für ein Kabriolet des Automobilherstellers Hanomag, das als das »Vornehmste seiner Klasse« beworben wird. Zweckmäßigkeit und Schönheit würden in seiner »eleganten und schnittigen Form […] in selten glücklicher Weise vereinigt«.
 

Dass die beiden Anzeigen eine Doppelseite bilden, ist zwar nicht mehr als ein Zufall. Dennoch kreuzen sich in ihnen die Hoffnungen, Wünsche und Träume der Zeit: Der neue Strumpf der Vereinigten Glanzstoff-Fabriken A.G. Elberfeld und das Kabriolet der Hannoverschen Maschinenbau A.G. versprechen beide auf ihre Weise, die Vorzüge der industriellen Produktion (Haltbarkeit, solide Bauart, Zweckmäßigkeit, Komfort …) mit zeitgemäßer Ästhetik (Schönheit, Eleganz, Schnittigkeit …) zu verbinden. Beide Reklamen arbeiten zudem an einem Bildprogramm des modernen Konsums, das die materiellen Güter und ihre sachlichen Vorzüge mit Vorstellungen von Romantik verbindet. So zählen typographisch abgesetzte Listen in beiden Anzeigen die qualitativen und quantitativen Eigenschaften auf: eine Liste der Farbvarianten im Fall der Strümpfe, eine Liste der Ausstattungsmerkmale im Fall des Kabriolets. Und beide Anzeigen inszenieren jeweils ein Paar, das einander zugewandt ist wie bei einem Rendezvous.

Dabei wirken die beiden Anzeigen chiastisch ineinander: Die Anzeige für die Strümpfe zeigt im plastisch gestalteten Vordergrund übereinandergeschlagene, in ›Celta‹ gehüllte Damenbeine, im Hintergrund eine Umrisszeichnung, in der ein Paar am Rande eines Boulevards steht. Die Dame blickt den Mann an, während sein Blick auf ein Automobil trifft, dessen Motorhaube, Scheinwerfer und Frontscheibe zu erkennen sind. Die Anzeige der Hanomag kehrt diese Anordnung um: Das Auto als das zu bewerbende Produkt ist, ebenfalls als Umrisszeichnung, im Hintergrund zu sehen, hingegen steht das Paar nun im wiederum plastisch gestalteten Vordergrund, wobei die Frau für die Betrachter:innen vor dem Mann positioniert ist – und somit den Blick auf ihre Beine samt vermutlich matt glänzenden Strümpfen freigibt. Strümpfe, Automobile und romantische Liebesbeziehungen bilden in diesem Anzeigenensemble ein festes, zusammengehörendes Setting.

In der Kultur der Weimarer Republik wird diese neue Verbindung von Konsum- und Liebesbegehren immer wieder durchgespielt. Die israelische Soziologin Eva Illouz hat in ihrer gleichnamigen Studie den »Konsum der Romantik« und seine historische Genese in der Zwischenkriegszeit beschrieben und dabei aufgezeigt, wie es gleichzeitig zu einer »Verdinglichung der romantischen Liebe« und einer »Romantisierung der Waren« kommt (Illouz 2007, S. 53).
 

Träume vom Glanz

Glanzstoffe wie der beworbene ›Celta‹-Stoff spielen dabei eine besondere Rolle, weil sie versprechen, mit dem künstlichen Glanz der Kunstseide ließe sich nicht allein ›sex appeal‹, sondern überhaupt ein glanzvolles Leben erwerben. So bringt das Magazin ›Das Leben‹ 1931/32 eine Artikel-Serie mit dem Titel: »Wenn Sie Diva werden wollen, machen Sie’s wie diese!«Darin werden weibliche Filmstars wie Clara Bow, Marlene Dietrich, Lien Deyers, Gerda Maurus, Trude von Molo und Käthe von Nagy porträtiert. Der fünfte Teil widmet sich im September 1931 Brigitte Horney und enthält ein ganzseitiges Bild, das Horney auf einem Rohrstuhl sitzend zeigt. Der Untertitel: »Moderner Zauber: Stahl, Kunstseide und eine selbständige Dame« (Schotte 1931).

Es ist dieser Zauber der Moderne, der Kunstseide in den 1920er Jahren zur wichtigsten Textilie der Modebranche werden lässt. Bereits 1906 berichtet das ›Kunstgewerbeblatt‹über die »vielseitigen Erzeugnisse aus Glanzstoff (= Kunstseide)«, die die Vereinigten Glanzstofffabriken in Elberfeldauf der Dresdener Kunstgewerbeausstellung präsentierten (Schumann 1906, S. 212). Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts werden neue synthetisierende Verfahren entwickelt, mit denen natürliche Fasern so bearbeitet werden können, dass sie den Glanz von Seide erhalten (vgl. Weyand 2013a, S. 231-240). Doch erst die neuen Weiblichkeitsentwürfe, die unter dem Schlagwort der ›Neuen Frau‹ für ein paar Jahre die Mode und die Gesellschaft revolutionieren, verhelfen der Kunstseide zu ihrem Erfolg. Neben ›Celta‹ kommen auch neue Kunstseide-Marken auf den Markt, darunter Setilose und, besonders erfolgreich, Bemberg, die 1931 gemeinsam mit ›Das Magazin‹ den Wettbewerb startet: »Wer hat die schönsten Beine?«
 


In den Jahren nach der Hyperinflation 1923 avanciert Kunstseide bis zum jähen Ende der Weimarer Republik 1933 zu einem transmedialen Faszinosum. Der Stoff wird nicht nur in Magazinen, sondern ebenso in Filmen und Literatur in Szene gesetzt: 1929 lässt Joe May für seinen Film ›Asphalt‹ im Studio eine nächtliche Berliner Straße bauen, zu deren größten Attraktion ein Schaufenster gehört, in dem ein Mannequin Strümpfe aus Bembergseide präsentiert. Die von Erich Kettelhut verantwortete Kulisse, die noch weitere Werbeelemente u.a. für Trumpf Schokolade und Junkers Motoren enthält, hat dem Film schon vor der Uraufführung Vorwürfe des Product Placements eingebracht (vgl. Weyand 2013b). Auch die Weltwirtschaftskrise, die im Herbst desselben Jahres Millionen von Menschen in finanzielle und materielle Not stürzt, tut dem Erfolg von Kunstseide keinen Abbruch. Im Januar 1931 druckt ›Das Magazin‹ als künstlerischen Beitrag einen mehrseitigen »Illustrierten Börsenbericht«, in dem es heißt: »Bemberg stark gefragt«.
 

Indem Kunstseide den Glanz der sehr viel teureren und edleren Seide imitiert, gibt sie einen höheren Lebensstil vor. Gleichzeitig etabliert sich Kunstseide in den 1920er Jahren als Produkt von eigenem Wert. »Nur echt mit dem Stempel ›Bembergseide‹«, heißt es in einer Anzeige, die 1928 in der Zeitschrift ›Die Dame‹für die Kunstseidemarke wirbt (vgl. Weyand 2013a, S. 193). Wie sehr Kunstseide dadurch zu einem begehrten Konsumgut wird, führt Irmgard Keuns Roman ›Das kunstseidene Mädchen‹ im Sommer 1932 vor Augen, der die Textilie schon im Titel nennt. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Doris setzt alles daran, sich in Bembergseide zu kleiden. Als sie achtzehnjährig von der Provinzstadt nach Berlin kommt, hat sie ein klares Ziel: »Ich will so ein Glanz werden, der oben ist. Mit weißem Auto und Badewasser, das nach Parfüm riecht, und alles wie Paris. Und die Leute achten mich hoch, weil ich ein Glanz bin [...]« (Keun 2005, S. 45). Im ›Glanz‹ verbinden sich für Doris Luxus und soziale Anerkennung. Dabei bemisst sie selbst ihren sozialen Auf- und Abstieg im Verlaufe des Romans wiederholt am Besitz von Bembergseide: »Es geht etwas vorwärts. Ich habe fünf Hemden Bembergseide mit Handhohlsaum« (Keun 2005, S. 76). Mit der Kunstseide imaginiert sie sich in das Leben eines Filmstars, während sie sich von Beziehung zu Beziehung hangelt. Auch für sie gehört, wie in der Anzeigendoppelseite, neben der Kunstseide das Automobil zum Setting des glanzvollen Lebens – als das eigene weiße Auto, von dem sie träumt, oder schon nur mit einer langen Taxifahrt durch das nächtliche Berlin, die Doris beschreibt: »Und bin heute allein Taxi gefahren wie reiche Leute – so zurückgelehnt und den Blick meines Auges zum Fenster raus – immer an Ecken Zigarrengeschäfte – und Kinos – der Kongreß tanzt – Lilian Harvey, die ist blond – Brotläden – und Nummern von Häusern mit Licht und ohne – und Schienen – gelbe Straßenbahnen gleiteten an mir vorbei, die Leute drin wußten, ich bin ein Glanz« (Keun 2005, S. 121).
 

Irmgard Keun hat damit den Träumen der Konsumkultur einen literarischen Raum gegeben – und den Träumenden eine Stimme. Wer die Vorläufer der Popkultur kennenlernen will, kommt um diesen Roman nicht herum (Lickhardt 2018; Weyand 2013a). Der Glanz der Kunstseide und der Glanz der leuchtenden Oberflächen im nächtlichen Berlin bilden den Stoff für den Traum vom Leben im Glanz, den in diesen Jahren so viele träumen (vgl. auch Bienert 2020). Für Irmgard Keun erfüllt sich dieser Traum für einen kurzen Moment: ›Das kunstseidene Mädchen‹ wird zum Bestseller. Im April 1933 widmet ihr das Magazin ›Das Leben‹ ein Porträt. Eine Fotografie zeigt sie schreibend im Café, der Artikel ist überschrieben ›Irmgard Keun eine von uns…‹ – eine Anspielung auf Keuns ersten, ebenfalls erfolgreichen Roman ›Gilgi. Eine von uns‹, der 1931 erschienen war.

Doch da beginnt der Traum schon zu platzen: Seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten gilt ihre Literatur als ›unerwünscht‹ und ›schädlich‹ und wird im Mai des gleichen Jahres auf die Schwarze Liste gesetzt. 1936 geht Keun ins Exil. Kunstseide wird nun unter dem Namen Vistra als »das weiße Gold Deutschlands« angepriesen (Dominik 1936). Das dazugehörige Automobil wäre wohl der KdF-Wagen. Knapp fünfzig Jahre nach Erscheinen von Keuns Roman zeigt dann jedoch ein Film noch einmal, welche popkulturelle Energie neue textile Fasern entfalten können: 1977 tanzt sich John Travolta im weißen Polyester-Anzug durch ›Saturday Night Fever‹.

 

Dr. Björn Weyand hat mit der Arbeit ›Poetik der Marke. Konsumkultur und literarische Verfahren 1900–2000‹ an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Er schließt derzeit sein Habilitationsprojekt zu Reisen und Wissen ab und ist Mitglied des DFG-Netzwerks ›Traveling Bodies – Bodies and Corporeality in Travel Literature‹. Seit 2022 gibt er die Werke des deutsch-jüdischen Schriftstellers, Plakatkünstlers und Filmemachers Edmund Edel (1863–1934) neu heraus.

Text: Dr. Björn Weyand 2024.

Die Abbildungen unterliegen möglicherweise dem Urheberrecht. Bitte beachten Sie die Nutzungshinweise.

Literatur

Bienert, Michael (2020): Das kunstseidene Berlin. Irmgard Keuns literarische Schauplätze. Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg.

Dominik, Hans (1936): Vistra, das weiße Gold Deutschlands. Die Geschichte einer weltbewegenden Erfindung. Leipzig: Koehler & Amelang.

Illouz, Eva (2007): Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Keun, Irmgard (2005): Das kunstseidene Mädchen. Nach dem Erstdruck von 1932. Hg. von Stefanie Arend u. Ariane Martin. Berlin: Claassen Verlag.

Lickhardt, Maren (2018): Pop in den 20er Jahren. Leben, Schreiben, Lesen zwischen Fakt und Fiktion. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.

Schotte, Paulus (1931): Wenn Sie Diva werden wollen, machen Sie’s wie diese! Fünftens: Brigitte Horney. In: Das Leben Bd. 9.1931/32, H. 3, September 1931, S. 57-72.

Schumann, Paul (1906): Die dritte deutsche Kunstgewerbeausstellung Dresden 1906. In: Kunstgewerbeblatt NF 17.1905-1906, H. 11, S. 205-220, https://doi.org/10.11588/diglit.4870.41.

Weyand, Björn (2013a): Poetik der Marke. Konsumkultur und literarische Verfahren 1900–2000. Berlin u. Boston: De Gruyter.

Weyand, Björn (2013b): An den Rändern des Semiologischen. Zur Faszination warenästhetischer Phänomene in Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen (1932) und Joe Mays Asphalt (1929), gelesen mit Roland Barthes‘ Mythologies (1957). In: KODIKAS / CODE.Ars Semeiotica 36 (2013), No. 1–2, S. 111-120.