Vladimir Erl'

Biographische Angaben und Bestandsbeschreibung

Vladimir Erl‘ / Vladimir Earl [bürgerlich Vladimir Ivanovič Gorbunov] (1947-2020) war ein sowjetischer Dichter, Prosaiker, Dramatiker, Kritiker und Textforscher.

Der in Leningrad geborene Dichter sah sich stets als Schriftsteller, wechselte jedoch nach Abschluss der Mittelschule mehrmals seine Berufe und verdiente seinen Lebensunterhalt als Betreiber eines Kiosks, als Kesselwärter oder als Redakteur einer Verlagsgenossenschaft.  Bereits 1965 gründete er den Untergrund-Verlag "Pol‘sa" (von 1970-1978 „Palata mer i vesov“, zu deutsch „Kammer für Maße und Gewichte"), der inoffiziell fast 100 unzensierte Bücher verschiedener unabhängiger Autor*innen veröffentlichte.

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gehörte Vladimir Erl‘ zum Kreis der inoffiziellen „Dichter der Malaja-Sadovaja-Straße“, die sich nach der Adresse eines Kaffeehauses benannten, das einer der wichtigsten Treffpunkte der Underground-Kultur in Leningrad darstellte. Seine erste Publikation erschien 1965 im Samisdat-Almanach "Fioretti". Ein Jahr später gründete er zusammen mit Dmitrij Makrinov die Gruppe "Helenukty", der u.a. Aleksandr Mironov, Andrej Gajvoronskij und Evgenij Venzel‘ angehörten. In seiner künstlerisch-literarischen Ausrichtung stellte sich die Gruppe in die absurden und spielerischen Traditionen der sowjetischen Futuristen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Koz‘ma Prutkov, Velimir Chlebnikov, Aleksej Kručennych oder der Gruppe OBERIU.  Mit seinen umfangreichen Aktivitäten war Vladimir Erl‘ einer der wichtigsten Vertreter inoffiziellen Leningrader Literatur- und Kunstszene und veröffentlichte seine Werke in den Samisdat-Zeitschriften Casy, 37, Severnaja Počta, Obvodnij Kanal, Mitin Žurnal und Transponans sowie in inoffiziell herausgegebenen Anthologien und Almanachen (z.B. Živoj mir, [1974], Leprosy-23 [1975] oder 1977 in Paris herausgegebenen Tamizdat „Apollon 77“.

Als Herausgeber und passionierter Textforscher stellte er zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Michail Mejlach eine wissenschaftliche Sammlung der Werke von Daniil Charms in vier Bänden zusammen (Bremen, 1978-1988) und veröffentlichte die Werke von Aleksandr Vedenskij in zwei Bänden (Ann Arbor, 1980, 1984), die 1993 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Moskau endlich auch offiziell erscheinen konnten.  Gemeinsam mit er 1985 Erinnerungen an Leonid Aronzon, mit dem er befreundet war, veröffentlichte er 1985 im Untergrund gemeinsam mit A. Stepanov. Auch war Vladimir Erl‘ an der Vorbereitung und Veröffentlichung der Werke von Konstantin Vaginov, Aleksandr Kručennych und Aleksej Chvostenko beteiligt. Für seine mannigfaltigen Aktivitäten wurde er 1986 mit dem inoffiziellen Andrej-Bely-Preis ausgezeichnet sowie 1990 mit dem Internationalen David-Burljukov-Preis. Seit 1999 war er Mitglied der Internationalen Akademie für russische Verse.

Das Archiv der Forschungsstelle Osteuropa übernahm 2002 ersten Werke von Wladimir Erl erhielt. In den Folgejahren wurde der Bestand sukzessive ergänzt. Die heute in seiner Sammlung aufbewahrten Manuskripte von Aufsätzen und Gedichten ermöglichen es, Erl‘s literarischen Weg lückenlos nachzuzeichnen. Einen besonders wertvollen Teil seines Archivbestands stellen die vom ihm zusammengetragenen Werke Dritter dar (u.a. von N. Aksel‘rod, L. Aronzon, E. Venzel‘, A. Volochonskij, A. Mironov, S. Sigov [Sergej Sigej] und A. Taršis [Ry Nikonova]). Erhalten geblieben sind seine umfangreichen Korrespondenzen mit Gleichgesinnten, vorrangig Vertreter*innen des Leningrader Underground und zahlreiche Fotografien, die die außerordentliche Vielfalt der inoffiziellen Literatur- und Kunstszene in Leningrad/St. Petersburg im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Die Archivmaterialien wurde im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Archiverschließungsprojekts "Nonkonforme Visionen. Alternative Kunst und Kultur aus Mittel- und Osteuropa" der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Link zum Bestand von Vladimir Erl' in der  FSO-Archivdatenbank